20 Monate Russischer Krieg gegen die Ukraine: Erkenntnisse und Ableitungen aus Sicht der Militärischen Auswertung – RK Nord am 10.10.2023
Am 10. Oktober 2023 fand in Hamburg die achte Vortragsveranstaltung des Regionalkreises Nord der Clausewitz-Gesellschaft e.V. diesen Jahres statt. Oberst i.G. Tölke aus dem Bundesministerium der Verteidigung trug zum Thema vor:
„20 Monate Russischer Krieg gegen die Ukraine: Erkenntnisse und Ableitungen aus Sicht der Militärischen Auswertung“
Der russische Krieg gegen die Ukraine hat sich zum blutigsten Krieg in Europa seit dem Ende des II. Weltkrieges entwickelt. Im Mai 2022 hatte ich bereits zu ausgewählten Aspekten dieses Krieges vorgetragen, dabei aber ganz bewußt auf eine militärische Aus- und Bewertung verzichtet. Oberst i.G. Jörg Tölke ist der zuständige Referatsleiter für militärische Auswertung der Abteilung Strategie und Einsatz I3 im Bundesministerium der Verteidigung. Wer könnte also berufener sein, über dieses Thema vorzutragen?
Wie bei diesem Thema und diesem kompetenten Referenten zu erwarten, war der Saal überfüllt. Unter den Zuhörern waren der ehemalige Inspekteur der Marine, Vizeadmiral a.D. Schimpf, der ehemalige Kommandeur der Führungsakademie der Bundeswehr, hamburgische Senator und Vizepräsident der Clausewitz-Gesellschaft e.V., Konteradmiral a.D. Lange, und zahlreiche externe Gäste, vor allem aus dem Bereich der Führungsakademie der Bundeswehr.
Schon jetzt hat dieser Krieg unser Bild der Kriegsführung zu Beginn des
21. Jahrhunderts grundlegend in Frage gestellt. Nach dem langjährigen Eindruck futuristisch-chirurgischer Drohnenkriegführung erleben das „Gefecht der Verbundenen Waffen“ und „Stellungskrieg“ eine Renaissance. Es erweist sich, daß Faktoren wie Moral, Durchhaltewillen und Findigkeit eine vermeintlich übermächtige Militärmacht straucheln lassen.
Der Rückblick auf über 20 Monate Krieg gegen die Ukraine bot wichtige Erkenntnisse zu Stärken und Schwächen, Fähigkeiten und Fähigkeitslücken beider Konfliktparteien. Angesichts des offensichtlichen Kräfteungleichgewichtes zu Kriegsbeginn zeigte Oberst i.G. Tölke auf, wie die Ukraine gezielt die erkannten Schwächen Russlands nutzte und auf zum Teil unkonventionelle Art und Weise Kriegsführung neu definierte.
Vor dem Hintergrund eines zunächst dynamischen Bewegungskriegs, der sich zunehmend in einen statischen Stellungskrieg wandelte, bei dem beide Seiten durch Abnutzung versuchen, den Gegner zu bezwingen, gab Oberst i.G. Tölke eine Erstbewertung zu den Fortschritten der beiderseitigen Offensivbemühungen in diesem Jahr. Dabei wurde deutlich, daß das Kräfteverhältnis der jeweiligen Luftstreitkräfte massiv zugunsten Rußlands ausfällt, während die Kräfte zu Land halbwegs ausgeglichen sind – vor allem, weil Rußland bislang sein mehrere Millionen Reservisten umfassendes Mobilisierungspotential kaum nutzt. Seestreitkräfte spielen derzeit eine eher untergeordnete Rolle.
Unverändert halten beide Seiten an ihren jeweiligen Kriegszielen fest, die miteinander unvereinbar sind. Rußland scheint entschlossen, seinen Angriffskrieg trotz verheerender eigener Verluste – bislang etwa 250.000 Verwundete und Gefallene – fortzusetzen. Das „System Putin“ scheint nicht wesentlich geschwächt und stabil zu sein; die Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung scheint zu tragen. Aber auch die Ukraine ist entschlossen, den Krieg fortzusetzen; der Durchhaltewille der Masse der Bevölkerung wie auch der politischen Führung scheint ungebrochen.
Oberst i.G. Tölke trug bewußt sachlich die vorliegenden Erkenntnisse vor, um daraus zu einer ebenso nüchternen militärischen Beurteilung der Lage (BdL) zu kommen. Schlußfolgerungen hieraus, gleich ob militärisch oder politisch, obliegen den dafür Zuständigen bzw. den Zuhörern dieses spannenden Vortrages. Nach einer intensiven und streckenweise sehr emotionalen Diskussion klang der Abend dann beim gemeinsamen Abendessen vom Buffet und weiteren Gesprächen in lockerer Runde aus.
Dr. Hans-Peter Diller
Oberstarzt a.D. und Leiter Regionalkreis Nord
Bild: Quelle StBtsm d.R. Tiburski, Clausewitz-Gesellschaft e.V.