Das Heer auf dem Weg zur Kriegstüchtigkeit – RK WEST vom 6. Mai 2024
Am 6. Mai 2024 konnte der Regionalkreis WEST den Stellvertreter des Inspekteurs des Heeres und Kommandeur der Militärischen Grundorganisation, Generalleutnant Andreas Marlow, zum Vortrag begrüßen. Nach Jahren der Fokussierung auf die planbare internationale Krisen- und Konfliktbewältigung gilt es nun, das Heer wieder kriegstüchtig im klassischen Sinne zu machen. Dies bedeutet die Fähigkeit, sich nach nur kurzer Vorwarnzeit – „kaltstartfähig“ – gegenüber einem ebenbürtigen oder gar überlegenen Gegner zu behaupten. Nun kann sich das Heer nicht für einige Jahre aus der Wirklichkeit zurückziehen, um wieder für die Landes- und Bündnisverteidigung kriegstüchtig zu werden. Denn auf absehbare Zeit werden an das Heer verschiedene Anforderungen gestellt, zwischen denen eine Balance gefunden werden muss:
Die gefährlichste Aufgabe ist nach wie vor – allerdings mit abnehmender Kräftebindung – der Auslandseinsatz z.B. im IRAK oder im KOSOVO. Auch nationale Evakuierungsoperationen bei ungewisser Bedrohungslage müssen weiter sichergestellt bleiben.
Die anspruchsvollste Aufgabe ist die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung, die auch mit etwa einer Verdreifachung der Kräftebindung durch die neuen konkreten Verteidigungsplanungen der NATO einhergeht.
Die wichtigste Aufgabe ist die Ausbildung von etwa 10.000 ukrainischen Soldaten im Jahr.
Die Erfahrungen aus dem Ukraine-Krieg werden im Kommando Heer sorgfältig ausgewertet, um ein kriegstüchtiges Heer zukunftsfähig aufzustellen, ohne dass allerdings alle Erkenntnisse 1:1 übernommen werden sollten. Klar ist aber, dass Unmanned Aerial Vehicles (UAV) sowohl für den eigenen Einsatz als auch hinsichtlich des Schutzes vor feindlichen UAV, eine sehr prominente Rolle in einem künftigen Heer einnehmen müssen. Auch die große Bedeutung der Artillerie im Gefecht wurde (erneut) deutlich. Ebenso wird die Notwendigkeit des personellen und materiellen Feldersatzes offenkundig, wenn ein kriegstüchtiges Heer auch für eine längere Zeit durchhaltefähig sein soll.
Die wesentlichen Handlungsfelder auf dem Weg zur Kriegstüchtigkeit sind Personal, Strukturen und Material.
Personell will das Heer jünger und beweglicher werden. Es soll in jüngeren Jahren geführt werden (Kompaniechefs und -feldwebel) und die Älteren ihre Erfahrung in Stäben und Ausbildungseinrichtungen einbringen. Die Einführung der sechsmonatigen Basisausbildung in den Stammtruppenteilen soll die Kohäsion festigen, den Handlungsspielraum der Brigaden erweitern und die Abbrecherquoten senken.
Eine moderate Anpassung der Strukturen des Heeres soll die Brigaden beweglicher machen, Ressourcen für Divisions- und Korpstruppen generieren und den Aufbau der „Mittleren Kräfte“ ermöglichen.
Seit der politische Wille nach dem Angriffs Russlands auf die Ukraine vorhanden ist – Stichwort „Sondervermögen“ – geht es auch mit der materiellen Ertüchtigung des Heeres wieder voran. Generalleutnant Marlow erläuterte die Zulaufplanung des modernen Materials in den kommenden Jahren und machte deutlich, dass hierfür auch die finanzielle Grundlage gelegt sei. Dies allerdings unter der Bedingung, dass auch nach Auslaufen des Sondervermögens der Verteidigungshaushalt auf 2% des BIP verstetigt wird, was schließlich von Regierungs- und Oppositionsparteien so zugesagt ist. Auch ist entschieden, dass die Heeresflugabwehrtruppe neu aufgestellt wird.
Das wichtigste und mit Abstand größte und komplexeste Heeresprojekt ist die Realisierung eines alle Ebenen umfassenden, digitalen Führungssystems, mit dem das Heer in der Führung schneller und vor allem mit der NATO und unseren Alliierten interoperabel werden will.
Anschließend an diesen Vortrag erläuterte Generalleutnant Marlow auf Bitte des Regionalkreises WEST hin noch die Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland als derzeit wichtigste Aufgabe des Heeres. Während im Laufe des Jahres 2022 diese Ausbildung in nationaler Verantwortung allmählich anlief, mandatierte die Europäische Union im November 2022 die „European Union Military Assistance Mission Ukraine (EUMAM Ukraine)“ mit dem Ziel, 60.000 ukrainische Soldaten innerhalb von zwei Jahren auszubilden. Das im Rahmen dieses Mandats gebildete, multinationale „Special Training Command“ unter der Führung von Generalleutnant Marlow ist für alle EUMAM-Ausbildungsaktivitäten ukrainischer Soldaten in Deutschland verantwortlich. Das selbst gesetzte Ziel, 20.000 Ukrainer innerhalb von zwei Jahren in Deutschland auszubilden bedeutet 1/3 der gesamten EU-Anstrengung und wird aller Voraussicht nach bis zum November 2024 erreicht werden.
Die Ukrainer werden von durchschnittlich 1.600 Ausbildern und Unter-stützungspersonal aus 14 Nationen und allen Teilstreitkräften/Organisations-bereichen ausgebildet. Das Training findet auf den Ebenen „Grundausbildung“, „Spezialisten- und Besatzungsausbildung“, „Gemeinschaftsausbildung auf Zug- und Kompanieebene“ und „Führertraining auf Bataillons- und Brigadeebene“ an sieben Tagen pro Woche statt. Die z.T. sehr kleinen Ausbildungsgruppen z.B. in der Besatzungsausbildung für Panzer oder Flugabwehrsysteme und der Bedarf an Sprachmittlern führen zu einem Verhältnis von fast 1:1 zwischen ukrainischen Soldaten und multinationalen Ausbildern/Unterstützungspersonal. Ein großes Problem bei der Ausbildung ist, genügend geeignete Sprachmittler für diese Aufgabe zu gewinnen. Als besonders positiv hob Generalleutnant Marlow die gelebte Multinationalität in dieser Mission hervor.
Nach einer angeregten Diskussion, bei der es vor allem um die Herausforderungen einer künftigen Durchhaltefähigkeit des Heeres und die Risiken eines digitalen, cloud-basierten Führungssystems ging, dankte der Leitende Generalleutnant Marlow für seine umfassenden, klaren Ausführungen und verabschiedete die Anwesenden mit Hinweis auf die nächste Vortragsveranstaltung zur Zeitenwende in der Luftwaffe am 3. Juni 2024.
Reinhard Kammerer
Generalleutnant a.D. und Leitender der Veranstaltung
Bild: Quelle Stabshauptmann a.D. Thielert, Clausewitz-Gesellschaft e.V. – Regionalkreis WEST