“Die Krise in und um die Ukraine – eine Kollision multipler Interessen. Eine Betrachtung mit Clausewitz’ Einsichten” – RK West am 03.11.2014
Im Mai – wenige Wochen nach der Annexion der Krim durch Russland – hatte sich der Regionalkreis West mit „der russischen Politik in der Ära Putin“ befasst. Nachdem damit quasi der politische Überbau zum Ukraine-Konflikt vermittelt worden war, erschien es nun an der Zeit, die politische und militärische Entwicklung des letzten halben Jahres in der Ukraine näher zu beleuchten. Generalleutnant a.D. Dr. Klaus Olshausen, von 2006 bis 2013 Präsident der Clausewitz-Gesellschaft, wählte dafür einen nur auf den ersten Blick ungewöhnlichen, für Mitglieder und Freunde der Clausewitz-Gesellschaft aber durchaus sehr plausiblen Ansatz.
Das hohe Interesse daran zeigte sich in der großen Resonanz dieser Veranstaltung und einem vollen Vortragssaal. Der Referent leitete mit einigen grundsätzlichen Clausewitz-Zitaten zur Natur bewaffneter Auseinandersetzungen ein, stellte die Ukraine-Krise in einen historischen Kontext und beleuchtete auch das Vorfeld der akuten Entwicklungen seit der Annexion der Krim Ende Februar 2014, dem ersten Höhepunkt der krisenhaften Entwicklungen zwischen der Ukraine, der Europäischen Union und Russland. Mangelnde politische und strategische Analysefähigkeit im vergangenen Jahr habe zum Versagen der Krisenprävention geführt. Denn für den verständigen Betrachter hätte angesichts der russischen Intervention in Georgien 2008 aus einem im Vergleich mit der Ukraine weitaus weniger bedeutsamen Anlass bereits im Sommer 2013 erkennbar sein müssen, dass das geplante Assozierungsabkommen mit der Europäischen Union zu einem Eingreifen Russlands führen könne. Auch nach der russischen Annexion der Krim sei eine kohärente Strategie des Westens, wie dem russischen Vorgehen zu begegnen sei, nicht zu erkennen. Der kategorische Ausschluss jeglicher militärischer Optionen zu einem frühen Zeitpunkt, einschl. der Unterstützung der Ukraine durch Waffenlieferungen, habe faktisch die Aufgabe der Krim und vermutlich auch des von Separatisten beherrschten Gebietes in der Ost-Ukraine bedeutet. Denn die ukrainischen Streitkräfte seien vor der Vereinbarung von Minsk zwar in der Lage gewesen, von Separatisten kontrollierte Gebiete zurückzugewinnen, aber gescheitert, sobald russische Kräfte mit schweren Waffen in die Kämpfe eingegriffen hätten. Da die Ukraine außer Stande sei, ihre Grenze zu Russland auf ganzer Länge zu kontrollieren, und sich Russland allen Bestrebungen widersetzen werde, die OSZE in die Überwachung der Grenze einzubeziehen, werde sich vermutlich an dieser militärischen Situation absehbar nichts ändern. Betrachte man die Akteure unter der Clausewitz’schen Zweck-Ziel-Mittel-Relation (s. Schaubild), könne man mit Blick auf Russland feststellen, dass das Primärziel, die Ukraine für die angestrebte Eurasische Union zu gewinnen, nicht mehr erreichbar sei. Dagegen habe man die Krim „heimgeholt“ und werde durch fortgesetzte Destabiliserung der Ukraine die Option, die Ost-Ukraine aus dem Staatsverband herauszulösen, ggf. auch eine Landverbindung zur Krim herzustellen, weiter verfolgen. Auf der anderen Seite sei es der Ukraine mit Unterstützung der EU zwar gelungen, eine eigenständige Entscheidung über ihre politische Ausrichtung zu treffen, nicht jedoch ihre territoriale Integrität zu bewahren. Es komme nun darauf an, die russische Aggression durch das Druckmittel der Wirtschaftssanktionen politisch zu begrenzen und die Ukraine vor dem Bankrott zu bewahren sowie durch diplomatische, finanzielle und politische Unterstützung darauf hinzuwirken, dass sich das Land stabilisiere. In einer längeren Aussprache wurden viele Gesichtspunkte des Vortrags aufgegriffen und vertieft. Nicht zuletzt wurde u.a. die Wirksamkeit von Sanktionsmaßnahmen und mit Blick auf die erforderliche Unterstützung der Ukraine die finanzielle Belastbarkeit der EU hinterfragt. Es wurde deutlich, dass es in westlichen Demokratien schwierig ist, den Bürgern Maßnahmen zu vermitteln, die den „Preis des Erfolges“ für die gegnerische Partei unakzeptabel erhöhen sollen, aber auch mit Nachteilen für die eigene Wirtschaft verbunden sind. Gehe es gar um militärische Optionen, sei die Schwelle der öffentlichen Akzeptanz noch schneller erreicht („Sterben für Donezk?“). Daher werde selbst das Tool „Wirtschaftssanktionen“, das ohnehin kein schnell wirkendes Mittel sei, wohl eher zurückhaltend genutzt werden. Die Betrachtung dieser Krise mit den Einsichten Carl von Clausewitz’ hat erwartungsgemäß zwar kein völlig verändertes Bild bei der Beurteilung der Lage in der Region erzeugt, aber selbst bei einem sicherheitspolitisch vorgebildeten Auditorium, das die Entwicklungen in der Ukraine natürlich mit großem Interesse verfolgt, doch in erstaunlich vielen Aspekten zur gedanklichen Klarheit beigetragen und den Blick bei der weiteren Beobachtung des Geschehens geschärft.