6. Clausewitz-Strategiegespräch in Berlin: Krisenentwicklung in Osteuropa: Ist ein sicherheitspolitischer Paradigmenwechsel erforderlich?
Dicht gedrängt verfolgten gut zweihundert Zuhörer das von der Clausewitz-Gesellschaft e.V. gemeinsam mit der Deutschen Atlantischen Gesellschaft e.V. und der Vertretung des Landes Sachsen-Anhalt beim Bund in deren Vortragsraum durchgeführte 6. Clausewitz-Strategiegespräch zu dem brandaktuellen sicherheitspolitischen Thema in Europa.
Staatsminister Rainer Robra, Europaminister und Chef der Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt, eröffnete die Veranstaltung persönlich mit einer sicherheitspolitischen Grußadresse, in der er neben Osteuropa auch andere aktuelle „Hot Spots“ und Herausforderungen auf unserem Globus ansprach, die ein enormes Risiko- oder gar Gefährdungspotential für die Sicherheit Europas aufweisen.
Der Moderator des Clausewitz-Strategiegesprächs, der Präsident der Clausewitz-Gesellschaft e.V., Generalleutnant a.D. Kurt Herrmann, umriss in seinen einleitenden Worten die Zielsetzung für den Diskussionsabend und lenkte dabei die Aufmerksamkeit über den Russland-Ukraine-Konflikt hinaus auf die gesamte Region der unmittelbaren Nachbarn Russlands im mittel- und osteuropäischen Raum.
Frau Dr. Margarete Klein von der Forschungsgruppe „Osteuropa und Ostasien“ der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) referierte anschließend zum Thema „Aktuelle sicherheitspolitische Lage in Russland und benachbarten Konfliktregionen“ (siehe Abb. 1). In ihrer Analyse setzte sie sich kritisch mit Ursachen, Motiven, erkannten Zielen und anzunehmenden Perspektiven der aktuellen russischen Außen- und Militärpolitik auseinander, die verkürzt ausgedrückt, alle darauf hinausliefen, dass Russland das Ende des Kalten Krieges als sein „Versailles“ empfunden hätte, das es zu revidieren gelte. Aus ihren Bewertungen leitete sie schließlich einige Szenarien, Folgerungen und Forderungen für politische und strategische Maßnahmen des Westens ab.
Generalleutnant a.D. Jürgen Bornemann, der ehemalige Generaldirektor des Internationalen Militärstabs (IMS) der NATO beleuchtete danach in seinem Impulsvortrag zum Thema „Die Russland-Ukraine-Krise: Neue Herausforderungen für NATO und EU“ die bereits vor einigen Jahren eingeleiteten Prozesse zur Anpassung und Neuausrichtung der sicherheitspolitischen Leitlinien und strategischen Konzepte. Breiten Raum gab Bornemann in seinen Ausführungen dem NATO-Russland-Rat (siehe Abb. 2), dem derzeitigen Verhältnis von NATO und EU insgesamt zu Russland, diversen Szenarien möglicher weiterer Entwicklungen zwischen dem Westen und der Russischen Föderation sowie konkreten Ansätzen des Bündnisses zur Stärkung der Abwehrfähigkeit vor allem unter Berücksichtigung sogenannter hybrider oder „nicht linearer“ Bedrohungsszenarien.
Die anschließend von Generalleutnant a.D. Herrmann geleitete Diskussion wurde durch zahlreiche Beiträge und Fragen aus dem Auditorium belebt. Frau Dr. Klein (siehe Abb. 3) und Generalleutnant a.D. Bornemann (siehe Abb. 4) gelang es in ihren Antworten sehr überzeugend ein breites Spektrum an vertiefenden Aspekten und Faktoren mit Blick auf einen umfassend vernetzten Sicherheitsansatz zu erläutern und diese vor allem auch im Clausewitz‘schen Sinne strategisch einzuordnen.
Natürlich standen die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, die russische Einflussnahme im Osten der Ukraine, die neuartigen Herausforderungen eines „hybriden Krieges“, der Bruch der Abkommen und Vereinbarungen zur europäischen Sicherheitsstruktur, die insbesondere in Helsinki (KSZE-Schlussakte, 1975), Paris (Charta, 1990) und Budapest (Memorandum mit Sicherheitsgarantien für die Ukraine als Gegenleistung für deren Verzicht/Abgabe von Nuklearwaffen) beschlossen wurden, im Mittelpunkt der Aussprache. Aber auch Fragen nach Zweck und Zielen russischer Außen- und Innenpolitik, zur Motivationslage der russischen Führung sowie zur neuen russischen Militärdoktrin und zur breit-umfänglichen Propagandaoffensive Russlands wurden intensiv erörtert.
Hinzu kamen lebhafte Diskussionen über das Strategische Konzept der NATO (Lissabon, 2010), die Beschlüsse des NATO-Gipfels von Wales (September 2014) – mit dem „Readiness Action Plan“ als Kernelement – und über Schwerpunktverlagerungen von Planungen und Fähigkeiten des nordatlantischen Bündnisses zurück zur Kollektiven Bündnis-/Landesverteidigung.
Breiten Raum nahmen auch Betrachtungen zum aktuellen Stand sowie zu den Perspektiven einer glaubwürdigen und wirksamen Rückversicherung für die NATO-Nachbarstaaten Russlands ein. Der Unterschied zwischen der Beistandsverpflichtung des Bündnisses nach Artikel V des Washingtoner Vertrages einerseits und eventuellen Möglichkeiten zur Hilfe und Unterstützung von Nicht-NATO-Staaten in ihrem Kampf um staatliche Souveränität und territoriale Integrität andererseits wurde dabei deutlich herausgestellt.
Die Geschlossenheit des Westens wurde als wesentlicher Stützpfeiler für eine diplomatische Lösung mit Moskau bewertet. Auch die Möglichkeiten und Grenzen zur Verringerung der Verwundbarkeit der EU- und europäischen NATO-Staaten infolge ihrer Abhängigkeit von Energie- und Rohstofflieferungen aus Russland kamen zur Sprache.
Die Möglichkeiten und Grenzen der OSZE zur Überwachung von Waffenstillstandsvereinbarungen sowie zur Unterstützung von Krisenmanagement und Konfliktbewältigung waren Gegenstand einer durchaus sehr kritischen Betrachtung.
Letztlich ging es in der Diskussion auch um notwendige Gegenmaßnahmen zur Beantwortung russischer Propaganda, um realistische Ansätze zur Rückgewinnung von gegenseitigem Vertrauen zwischen EU/NATO und Russland und nicht zuletzt um gesamtpolitische Ansätze und Maßnahmen zur Stärkung von Demokratie und rechtsstaatlichen Strukturen in Ländern Mittel- und Osteuropas.
Wiederholt wurde eine Rückbesinnung auf die Prinzipien und den dualen Ansatz des Harmel-Berichts von 1967/68 angeregt und dabei eine analoge Doppel- oder Mischstrategie aus Elementen glaubwürdiger Abschreckung oder wirksamer Verteidigungsfähigkeiten in Verbindung mit der Aufrechterhaltung von Gesprächskanälen für Krisen- und Konfliktmanagement sowie von Angeboten zur Wiederherstellung oder Erneuerung vertrauensvoller Kooperation erwähnt.
Weitgehende Übereinstimmung konnte zudem festgestellt werden, dass ein sicherheitspolitscher Paradigmenwechsel bereits im Gange ist, zur wirksamen Umsetzung jedoch auch die notwendigen Investitionen geleistet werden müssen. Letzteres erfordert wiederum einen gesamtpolitisch konkret angesetzten und vor allem in breiten Kreisen der Bevölkerung akzeptanzfähigen Rahmen, der auf klar definierten strategischen Grundsätzen beruhen sollte.
Der Leitende wies in seinem Schlusswort u.a. auf die Notwendigkeit glaubwürdiger, effektiver Fähigkeiten, Mittel und Kräfte als potentielle „Hilfsmittel/Werkzeuge“ für die Anwendung erfolgreicher Diplomatie hin und unterstrich die Dringlichkeit konkreter Stabilisierungs- und Unterstützungsmaßnahmen im Sinne eines umfassend vernetzten Sicherheitsansatzes für die mittel- und osteuropäischen NATO-Staaten. Zugleich betonte er, dass das „Fernziel“ eines Europa, das in Übereinstimmung mit Geist und Wort der Charta von Paris frei, geeint und in Frieden existiert, unter den gegenwärtigen Bedingungen weiterhin viele kleineGeneralleutnant a.D. Jürgen Bornemann erläutert sicherheitspolitische Entwicklungen und Perspektiven des westlichen Bündnisses Schritte und einen langen Atem erfordern wird.