Diskussionsbeiträge BrigGen a.D. Dr. Klaus Witttmann in der Diskussionsplattform des Deutsch-russischen Forums
Nachfolgend drei Beiträge ursprünglich für die neue Diskussionsplattform des Deutsch-russischen Forums. Diesem ist BrigGen Dr. Wittmann aufgrund der von ihm gesehenen Notwendigkeit einer Aufrechterhaltung des Dialogs mit Russland im letzten Jahr beigetreten (www.russlandkontrovers.de). Die Beiträge stellen die Meinung des Autors dar.
Klaus Wittmann – 17. März 2015 – „Neues Denken“ für bessere Zeiten
(Zu: Alexander Rahr, Lösungen zur Ukraine-Krise)
Russlands gewaltsames Vorgehen gegen die Ukraine hat die Regeln der Schlussakte von Helsinki (1975), der Charta von Paris (1990) und weiterer Abmachungen – Souveränität, territoriale Integrität, Unverletzlichkeit von Grenzen, freie Bündniswahl – in Frage gestellt. Fundamentales Vertrauen ist zerstört. Doch muss eingestanden werden: Die NATO-Politik der Westintegration der MOE-Staaten bei gleichzeitigem Angebot der Partnerschaft an Russland hat sich als Misserfolg erwiesen. In Putins Rede vor der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 fokussierten sich der Demütigungskomplex, die Frustration darüber, dass der Westen „macht, was er will“ und das Gefühl, ausgegrenzt zu sein. Doch muss eingestanden werden: Die NATO-Politik der Westintegration der MOE-Staaten bei gleichzeitigem Angebot der Partnerschaft an Russland hat sich als Misserfolg erwiesen. In Putins Rede vor der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 fokussierten sich der Demütigungskomplex, die Frustration darüber, dass der Westen „macht, was er will“ und das Gefühl, ausgegrenzt zu sein.
Doch isolieren kann Russland sich nur selbst. Das tut seine Führung derzeit mit einer Politik, die das Gegenteil ist von Gorbatschows „Perestroika“, „Glasnost“ und „Neuem Denken“.
Aber genau das braucht Russland: „neues Denken“ in der Außen- und Sicherheitspolitik, als Teil seiner dringend notwendigen Modernisierung. Der Westen und besonders die NATO sollten das freilich durch selbstkritische Anerkennung ihres Teils der Verantwortung für die Verschlechterung des Verhältnisses in den letzten zwanzig Jahren erleichtern (siehe im Einzelnen hierzu und zum Folgenden: Klaus Wittmann, The West is not Russia’s Enemy. Atlantic Times Sep/Oct 2014).
Russland bleibt Nachbar und weitgehend Teil Europas. Konkrete Vorstellungen für künftige Zusammenarbeit werden gebraucht. In Ergänzung des – konditionierten – Vorschlags der Bundeskanzlerin für eine West-Ost-Freihandelszone sollte auf sicherheitspolitischem Gebiet, vor allem seitens der NATO, u.a. folgendes ins Auge gefasst werden: bessere Nutzung des NATO-Russland-Rats im Sinne konformer Interessen und gemeinsamer Aktion, Dialog mit der CSTO, gewisse Rücksichten in der NATO-Erweiterung, ein Wiederaufgreifen des Medwedjew-Vorschlags von 2008/9 (ungeachtet inhaltlicher Bedenken) als Ausgangspunkt für einen intensiven strukturierten Dialog über die künftige europäische Sicherheitsordnung und Russlands Platz darin, einen neuen Aufbruch in der konventionellen Rüstungskontrolle und europäischen Vertrauensbildung sowie eine Aktivierung der OSZE.
Für die NATO bleibt die Harmel-Philosophie gültig: Verteidigung und Entspannung, Festigkeit und Gesprächsbereitschaft. Ihren prägnantesten Ausdruck fand sie im NATO-Doppelbeschluss von 1979, der mitsamt der „Nachrüstung“ nach Gorbatschows eigener Aussage ausschlaggebend für das „neue Denken“ in der sowjetischen Außenpolitik war.
Vorausschauende westliche Politik müsste erneutes „neues Denken“ in Russland befördern. Eines Tages wird es sich auch durchsetzen, wenngleich möglicherweise nicht, solange Putin am Ruder ist. Aber seine Herrschaft könnte früher zu Ende gehen, als er und seine derzeit in nationalistischem Stolz schwelgenden Anhänger glauben. Jedenfalls sollten langfristige Angebote zur Zusammenarbeit einschließlich der ernsthaft erneuerten Ermutigung zu kooperativer statt konfrontativer Sicherheit ausgearbeitet und bereitgehalten werden – unter Berücksichtigung legitimer Interessengesichtspunkte sowohl Russlands als auch des Westens.
Klaus Wittmann – 30. April 2015 – „Ukraine-Krise“
(zu: Alexander Rahr, Neue Sicherheitsarchitektur Europas)
Russland braucht „neues Denken“ in der Außen- und Sicherheitspolitik als Teil seiner Modernisie-rung. Der Westen und besonders die NATO sollten das durch selbstkritische Anerkennung ihres Teils der Verantwortung für die Verschlechterung des Verhältnisses in den letzten zwanzig Jahren erleichtern (siehe „The West is not Russia’s Enemy“, Transatlantic Times Sep/Oct 2014, S. 5.). Der Krieg in der Ukraine hat die Voraussetzungen für eine solche Entwicklung geschwächt, doch muss langfristig das ernsthafte Angebot zu kooperativer statt konfrontativer Sicherheit bestehen bleiben – unter Berücksichtigung legitimer Interessengesichtspunkte sowohl Russlands als auch des Westens.
Kein Fehler der NATO, der EU oder der USA rechtfertigt Moskaus gewaltsames Vorgehen gegenüber der Ukraine. Russland sieht sich im Konflikt mit „dem Westen“, doch die Interpretation seiner Handlungsweise als Reaktion auf Aktionen der USA greift zu kurz. Die NATO-Erweiterung war nie eine Bedrohung – nicht einmal eine aktive Expansion, sondern der Drang der neubefreiten MOE-Staaten nach Westen, über dessen Gründe Moskau nachdenken sollte.
Auch wenn Perzeptionen politisch wirkmächtige Fakten sein können, geht es hier nicht lediglich um „unterschiedliche Wahrnehmungen“ von Konfliktursachen, wie der russische Botschafter gerade in einem Rundfunkinterview feststellte. Russland muss zurückkehren zur Achtung der Prinzipien von Helsinki und Paris: Souveränität, territoriale Integrität, Unverletzlichkeit der Grenzen, friedliche Konfliktbeilegung, Nichteinmischung, freie Bündniswahl. Das Land, das am konsequentesten auf „Nichteinmischung“ beharrt, hat sich in seit Jahrzehnten nicht dagewesener Weise in die inneren Angelegenheiten seines Nachbarn Ukraine eingeschaltet. Die Minsker Abkommen müssen umgesetzt werden, und die Ukraine muss sich reformieren, aber auch imstande sein, sich gegen weitere Vorstöße der von Russland unterstützten Aufständischen zu verteidigen.
Doch muss über die gegenwärtige Krise hinausgedacht werden: Nie hat es in ausreichendem Maße das Gespräch über Russlands Platz in der europäischen Sicherheitsordnung gegeben. Die Bundeskanzlerin hat unter der Bedingung einer Rückkehr Russlands zu den vereinbarten Prinzipien eine West-Ost-Freihandelszone in Aussicht gestellt. Diese Bereitschaft sollte auf sicherheitspolitischem Gebiet durch konkrete Vorstellungen flankiert werden.
Ein zentrales Beispiel: Den Medwedjew-Vorschlag von 2008/2009 für einen umfassenden europäischen Sicherheitsvertrag, wenngleich in der Substanz bedenklich, hätte der Westen doch viel aktiver aufgreifen sollen – als Ausgangspunkt für einen intensiven strukturierten Dialog nicht zuletzt im NATO-Russland-Rat. Die Scheu davor auf westlicher Seite war und ist nicht angebracht. Ist nicht auch die Schlussakte von Helsinki 1975 mit ihren positiven Auswirkungen in der jüngeren europäischen Geschichte aus ursprünglich furchtsam betrachteten sowjetischen Vorschlägen hervorgegangen? Die unterschiedlichen ordnungspolitischen Vorstellungen Russlands und der NATO für den euro-atlantischen Raum sollten mit großer Offenheit und langem Atem diskutiert werden. Und im Interesse der Weiterentwicklung der europäischen Sicherheitsordnung sollte innovativ und engagiert ein neuer Aufbruch in der konventionellen Rüstungskontrolle und europäischen Vertrauensbildung betrieben werden.
Die fortwährende Bereitschaft zum Dialog ist Teil der Harmel-Philosophie der NATO; „Verteidigung und Entspannung“. Wenn die russische Führung meint, die USA wollten „Russland klein halten“(Präsident Putin in seiner Neujahrsrede) so sollte sie einsehen: Respekt und Augenhöhe lassen sich nicht durch Aggression erzwingen. Aber ein Russland, das konstruktiv zu regionalem und globalem Problemlösen beitrüge (wofür es in den letzten Jahren mit den syrischen Chemiewaffen und der Nuklearambition Irans leider nur zwei positive Beispiele gibt), statt auf Störpotential und Verhinderungsmacht zu setzen, wäre auch als Großmacht hochwillkommen.
Dr. Klaus Wittmann – 17. August 2015 – Alle gleich schuld?
(Zu: August Pradetto, Ost-West-übergreifende Inszenierung des Ukraine-Konflikts)
Die „äquidistante“ Sicht auf den Ukraine-Konflikt betrachtet die Ukraine als Streitobjekt zwischen Russland und dem Westen. Sie kommt in August Pradettos Deutung einer „Ost-West-übergreifenden Inszenierung des Ukraine-Konflikts“ zum Ausdruck, aber auch in Edgar Jahns Erklärung als „Integrationskonkurrenz“ bzw. als „Moskau-Brüssel-Konflikt“.
Solche Interpretationsmuster lassen Verschiedenes außer Betracht.
Erstens sollte man in Respekt vor dem ukrainischen Volk anerkennen, dass es auf seine Wünsche und Aspirationen ankommt, nicht auf die Ziele anderer Mächte. Was Jahn verniedlichend „Verwestlichung“ nennt, ist der „Drang einer bevormundeten Nation nach Emanzipation und Selbstbehauptung“ (Krzeminski).
Zweitens wäre im Lichte russländischer Ansprüche etwas Beschäftigung mit der ukrainischen Geschichte nützlich. Adam Krzeminski kritisiert zu Recht Herfried Münklers Darstellung, die russischen Grenzverschiebungen des 18. und 19. Jahrhunderts seien „bloße Wechsel des Landesherren und der Verwaltungsspitze“ gewesen, und verweist auf die zahllosen repressiven Maßnahmen und die rigorose Zwangsrussifizierung.
Drittens sind „Einflussnahme“ Russlands und des Westens in der Ukraine von gänzlich unterschiedlichem Charakter: Unterstützung prowestlicher Kräfte (sicher nicht ganz interessenfrei) und Assistenz im Rahmen der seit 1997 bestehenden NATO-Ukraine-Kommission ist etwas völlig anderes als Annexion eines Landesteils, Schüren sprachlich-ethnischer Divergenzen und verdeckte militärische Intervention.
In einem „Politischen Salon“ in Potsdam wurde kürzlich behauptet, der Westen wolle Russland mit einem cordon sanitaire einhegen. Dies verrät vor allem eins: Objekt-Denken gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten. Dem ist ein viel zutreffenderer Gebrauch dieser politischen Metapher entgegenzuhalten (Berthold Kohler in der FAZ): „Putin wünscht sich einen cordon sanitaire von scheiternden Staaten, der sein Reich vor der Ansteckung mit westlichen Ideen schützen soll.“
In der Tat scheint das Hauptmotiv der Kreml-Führung (neben Revisionismus/Geopolitik, Frustration über vermeintliche Missachtung v.a. durch die USA, Externalisierung von internen Problemen und Verhinderung der Westintegration) die Erkenntnis zu sein, dass demokratischer Erfolg in der Ukraine für Putins Machtsystem eine existentielle Bedrohung wäre. Dass man in Moskau unlängst hunderttausend Demonstranten zu einer Kundgebung unter dem Motto „Anti-Maidan“ versammelte, erscheint als geradezu tragikomisches Zeichen der Schwäche. „Putin hat nicht Angst vor der NATO“, schrieb die Süddeutsche Zeitung, „sondern vor dem eigenen Volk“.
Die NATO-Erweiterung mag politisch-psychologisch für Moskau schmerzlich sein, aber eine Bedrohung war sie nie – nicht einmal eine aktive Expansion. Sie ergab sich aus dem Drang wieder freier Staaten, sich dem Westen anzuschließen, über dessen Motive man im Kreml nachdenken sollte. Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine liegt übrigens seit dem Gipfeltreffen der Allianz im Bukarest 2008 in weiter Ferne. Putins Behauptung, bevor die NATO sich der Krim bemächtigt hätte, habe er eingreifen müssen, ist besonders plumpe Propaganda. Propaganda sind auch die ständig wiederholten Behauptungen, die Sowjetunion bzw. Russland hätten Zusicherungen hinsichtlich einer Nichterweiterung der NATO erhalten.
Dass die Europäische Union nun mit der NATO fast gleichgesetzt wird (siehe Lawrows Reden vom „Machtbereich“ der EU), kam unerwartet. Trotz Kritik an Fehlern und Ungeschicklichkeiten auf EU-Seite hätte niemand voraussagen können, dass ihr Assoziierungsabkommen mit einem souveränen Staat Kriegsgrund sein könne.
Nein, es geht nicht um „Integrationskonkurrenz“ mit der Ukraine als Streitobjekt. Es geht auch nicht (so Botschafter Grinin in einem Rundfunkinterview) um „unterschiedliche Wahrnehmungen“ von Konfliktursachen. Und die großen innerukrainischen Probleme sind keine Rechtfertigung für gewaltsames Eingreifen durch eine auswärtige Macht (die sich sogar makabrerweise auf die VN-proklamierte „Responsibility to protect“ beruft). Ohne russische Aggression gäbe es in der Ostukraine keinen „Bürgerkrieg“.
Es geht, wie gesagt, um Emanzipation und Selbstbehauptung, Souveränität und Unverletzlichkeit von Grenzen sowie um das Recht der Ukraine, ihre Probleme ohne Intervention von außen zu lösen. Dazu verdient sie alle mögliche Unterstützung.
Diese ist Hauptaspekt der notwendigen Lösungsansätze, zu denen aus meiner Sicht außerdem gehören: Deeskalationsbemühungen gegenüber einer russischen Politik, die kürzlich als brinkmanship (Politik des äußersten Risikos) bezeichnet wurde – und zugleich ist die Harmel-Philosophie der NATO weiterhin aktuell mit ihren beiden Elementen: Verteidigung und Entspannung, Festigkeit und Dialogbereitschaft. Das bedeutet in der aktuellen Lage Umsetzung der Gipfel-Beschlüsse von Wales über zuverlässigen Schutz aller NATO-Mitglieder bei gleichzeitiger stetiger Erneuerung des Angebots an Moskau für eine Rückkehr zu kooperativer (statt konfrontativer) Sicherheitspolitik – und (endlich!) Aufnahme eines ernsthaften Dialogs über Russlands Platz in der europäischen Sicherheitsordnung.