Die NATO nach dem Gipfel von Warschau – RK WEST am 22.08.2016
Auf dem Gipfel in Wales im September 2014 hatte die NATO auf die veränderte sicherheitspolitische Lage in Europa reagiert und die Bündnisverteidigung wieder in den Mittelpunkt ihrer Aufgaben gerückt. Im Rahmen eines umfangreichen „Readiness Action Plan“ wurde zur Verbesserung der Reaktionsfähigkeit u.a. die Aufstellung einer „Very High Readiness Joint Task Force (VJTF)“ beschlossen, über deren Aufbau und erste Übungen bereits mehrfach im Regionalkreis vorgetragen wurde. Nun ging es an dem dazu passenden Tagungsort Warschau vor allem darum, die Bündnissolidarität mit den Mitgliedern an der östlichen Peripherie weiter zu stärken. Im Grundsatz war sich das Bündnis einig, dass es erforderlich sei, die Abschreckung wieder zu stärken, zugleich jedoch die Gesprächsbereitschaft mit Russland nicht in Frage zu stellen. Dass die Akzente dabei durchaus unterschiedlich gesetzt wurden, zeigte die Diskussion der vergangenen Monate. GenLt a.D. Dr. Klaus Olshausen, dem als Deutscher Militärischer Vertreter bei der NATO und der EU von 2000 bis 2006 die Entscheidungsprozesse im Bündnis wohlvertraut sind, hat im Regionalkreis West die wesentlichen Beschlüsse des Gipfels in Warschau dargestellt und bewertet.
Einleitend führte er aus, dass das Zusammentreffen der Staats- und Regierungschefs im Juli in einer turbulenten Zeit zahlreicher Krisen und Konflikte gerade auch an der Peripherie der Allianz stattfand. Die zahlreichen behandelten Themen spiegelten sich in einem Kommuniqué von 139 Paragraphen wider. Mit dem verdeckten Krieg Russlands gegen die Ukraine und dem offensiven Einsatz des Militärs auf See und im Luftraum rund um das NATO-Gebiet sowie Russlands militärischem Eingreifen in den Krieg in Syrien zur Unterstützung des Assad Regimes sei schon im Vorfeld deutlich geworden, dass Verteidigungsfähigkeit der Allianz und die Entwicklung des Verhältnisses zu Russland zu den wesentlichen und kritischen Themen zählten. Aber auch die Herausforderungen durch den islamistischen Terror mit ISIL/Daesch in Syrien, im Irak und in Libyen sowie mit den schlimmen Anschlägen auch in NATO-Staaten von der Türkei bis nach Frankreich hätten im Blickpunkt gestanden.
Dr. Olshausen stellte seine Einschätzung der Gipfelergebnisse und der Perspektiven für deren Verwirklichung in einen breiten übergreifenden Zusammenhang. Ausgehend von geo-politischen und geo-ökonomischen Gegebenheiten zeigte er auf, wie dieser sowohl von technologischen Dynamiken, insbesondere im Cyber-Raum, den Gesellschaften und Kulturen mit unterschiedlichen innenpolitischen Herausforderungen aller 28 Mitgliedstaaten als auch von nicht-staatlichen Akteuren (als Verbündete oder Gegner) sowie vom Geflecht internationaler Organisationen beeinflusst und mitbestimmt wird.
Beim Blick auf Entscheidungen und Aufträge des Gipfels fokussierte er sich auf einige besonders herausragende Entwicklungsstränge:
1. Kollektive Verteidigung mit moderner Abschreckung, einschl. Vorbereitung auf Prävention und Verteidigung gegen hybride Kriege im Cyber-Zeitalter.
2. Zusammenwirken von NATO und EU, ein entschlossener Weg oder weitere deklaratorische Wiederholung?
3. Der Umgang mit einem offensiven und in der Ukraine und Syrien aggressiven Russland sowie
4. Krisenbewältigung und kooperative Sicherheit, vom Eingreifen/Intervenieren zu Ertüchtigung und partnerschaftlicher Vor-/Nachsorge.
Wie in Wales 2014 sei es auch in Warschau bei dem Konsens geblieben, dass alle drei Kernaufgaben der Allianz – kollektive Verteidigung, Krisenmanagement, kooperative Sicherheit – ihre Bedeutung behielten. Aber auch in Warschau habe der Schwerpunkt auf der kollektiven Verteidigung mit Rückversicherung und glaubwürdiger (moderner) Abschreckung durch weiter verbesserte Verteidigungsfähigkeit gegen komplexe, konventionelle wie hybride Kriege im Cyber-Zeitalter gelegen.
Die (mühsam) zum Konsens geführte andauernde Präsenz von multinationalen Bataillonen in einem ständigen Rotationsrhythmus in den baltischen Staaten und Polen werde zwar im Detail noch zahlreiche praktische Herausforderungen bringen – auch in der Ressourcenfrage; aber wesentlich offener bleibe die Verwirklichung des weiteren Aufwuchses in der konventionellen Verteidigungsfähigkeit mit drei voll einsatzbereiten Korps der Landstreitkräfte mit jeweils zwei strukturell voll ausgestatteten Divisionen und entsprechenden Brigaden sowie einer Vielfalt von Verbänden der Luft- und Seestreitkräfte sowie starken Spezialkräften. Dies werde jedenfalls einen viel stärkeren und rascheren Aufwuchs der Verteidigungsbudgets und der Ressourcen insgesamt erfordern, als es mit der sog. Trendwende seit 2015 zu erkennen sei. Auch die defensiven wie offensiven Herausforderungen im Cyber-Raum verlangten erhebliche kostenträchtige Maßnahmen in der Implementierung. Eine weitere Herausforderung für das Kontinuum glaubwürdiger Abschreckung bleibe die Einbeziehung der nuklearen Komponente und der Abwehr ballistischer Raketen. Es sei davon auszugehen, dass sich daraus noch zahlreiche kontroverse Erörterungen in den Gremien der Allianz ergäben.
Auch der erneut angesprochene Verbund umfassender, gemeinsamer Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr von Nordamerika – EU – NATO könne nicht darüber hinwegtäuschen, dass er immer noch nicht erreicht sei. Auch auf diesem Gebiet gebe es noch eine Menge zu tun.
Ausführlich ging Dr. Olshausen auf das durch die Ukraine-Krise geprägte Verhältnis zu Russland ein. Dabei wurde seine Sorge deutlich, dass manche Regierung wohl bereit wäre, Zugeständnisse an Russland zu machen, die von den Grundsätzen der territorialen Integrität und der Entscheidungsfreiheit aller Staaten in außenpolitischen Angelegenheiten Abstriche erfordern würden.
Auch in der Allianz sei von Krisenreaktionsoperationen oder gar solchen zur Erzwingung des Friedens nicht mehr die Rede. Man könne nur hoffen, dass die Ertüchtigungsinitiative (Defence Capacity Building) bei der Stabilisierung von Ländern in Krisen- und Konfliktlagen erfolgreich sein werde. Sie solle in kritischen Regionen dazu beitragen, krisenhafte Entwicklungen zu vermeiden bzw. frühzeitig zu erkennen und militärische und andere Sicherheitsunterstützung einzuführen, ohne jedoch eigene Landstreitkräfte in den Kampf eingreifen zu lassen.
Insgesamt sehe die NATO das Gipfelergebnis als ein Zeichen transatlantischer Solidarität und Einigkeit, als Schulterschluss mit Partnern und Freunden sowie als Bestätigung ihrer Entschlusskraft und Anpassungsbereitschaft und –fähigkeit. Tatsächlich ließen die fortbestehenden Kontroversen innerhalb der EU, zwischen Europa und Amerika und die sehr unterschiedlichen Sichtweisen in den europäischen Mitgliedstaaten im Osten und Westen, im Norden und Süden erkennen, dass bei der Verwirklichung der Gipfelbeschlüsse noch manche Hindernisse, ja Rückschläge zu erwarten seien.
In einer lebhaften Aussprache, die nahezu die gesamte Breite des Themas abdeckte, wurden etliche der angesprochenen Aspekte vertiefend diskutiert. Dabei wurde als sehr angenehm und erfrischend empfunden, dass der Referent in seinen Bewertungen mit Blick auf weiterhin bestehende Defizite und Ungereimtheiten, aber insbesondere auch hinsichtlich der gegenwärtigen russischen Politik, Klartext nicht gescheut hatte. Die Rückmeldungen von Teilnehmern der Veranstaltung sprachen von einem außerordentlich informativen und anregenden Abend.
Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.