Russland und der Westen – RK NORD am 14.09.2016
Wie vor 30 Jahren die marode Sowjetunion benötigt auch Putins Russland, derzeit sich selbst isolierend und gegenüber dem Westen zunehmend aggressiv auftretend, „neues Denken“ in der Außen- und Sicherheitspolitik als Teil seiner notwendigen Modernisierung. Der Westen und besonders die NATO sollten das freilich erleichtern durch selbstkritische Anerkennung ihres Teils der Verantwortung für die Verschlechterung des Verhältnisses in den letzten fast zwanzig Jahren (natürlich ohne dass dies militärische Aggression und Völkerrechtsbruch rechtfertigte).
Das war die Hauptthese eines Vortrags, den Brigadegeneral a.D. Dr. Klaus Wittmann, Senior Fellow des Aspen Institute Deutschland und Lehrbeauftragter für Zeitgeschichte an der Universität Potsdam, am 14. September 2014 vor der norddeutschen Sektion der Clausewitz-Gesellschaft hielt. Die Veranstaltung fand an der Führungsakademie der Bundeswehr statt, wo er 2000-2005 als Direktor Lehre gewirkt hatte. Sie war auch Anlass für den neuen Kommandeur der Führungsakademie, Flottillenadmiral Carsten Stawitzki, sich gleich zu Beginn seiner Amtszeit den norddeutschen Mitgliedern der Clausewitz-Gesellschaft vorzustellen.
Bevor der Vortragende seine These sowohl hinsichtlich notwendiger grundsätzlicher Veränderungen russischer Außen- und Sicherheitspolitik und im Westen angebrachter Selbstkritik konkretisierte als auch mit konkreten Vorstellungen für kooperative statt konfrontativer Sicherheit zwischen dem Westen und Russland veranschaulichte, fand er allerdings klare Worte zur Kennzeichnung und Analyse der derzeitigen Situation im Verhältnis Russlands mit dem Westen. Er charakterisierte die vielen Offerten des Westens zu Inklusion und Integration Russlands bis hin zur NATO-Russland-Grundakte von 1997, in der beide Seiten sich versichert hatten, sich gegenseitig nicht mehr als Gegner zu betrachten, und beurteilte den „Paradigmenwechsel“, den Krim-Annexion und Anstacheln eines Krieg in der Ost-Ukraine durch Russland für die europäische Sicherheitsordnung bedeutete mit der Infragestellung aller in Helsinki 1975 und in Paris 1990 vereinbarten Prinzipien.
Sodann „outete“ sich Wittmann als „Putin-Versteher“, was für dessen Vorgehensweise indes nicht Verständnis im Sinne von Billigung bedeuten solle, und präsentierte seine Sicht des zugrundeliegenden Motivbündels: geopolitischer Revisionismus; Ablenkung von inneren Problemen Russlands; Verhinderung der ukrainischen Westorientierung durch Offenhalten des Konflikts; die Vorstellung von NATO-Erweiterung, „Farben-Revolutionen“ und EU-Östlicher Nachbarschaftspolitik als US-gelenkte „Eroberung“ russischen Einflussgebiets; die Frustration darüber, vom Westen und besonders den USA nicht auf Augenhöhe als Großmacht akzeptiert zu werden – und schließlich „Demokratie-Eindämmung“ aus Furcht, der denkbarer Erfolg einer demokratischen, gar westlich orientierten Ukraine könne zur existentiellen Bedrohung von Putins Herrschaftssystem werden.
In der Ukraine würde es ungeachtet aller Probleme und Unzulänglichkeiten ohne die (bislang geleugnete) russische Beteiligung heute keinen bewaffneten Konflikt geben. Die „äquidistante“ Sicht auf die Ukraine als „Streitobjekt“ zwischen Russland und dem Westen lasse den Freiheitsdrang derjenigen außer Acht lassen, die nach dem Fall der Berliner Mauer dem Völkergefängnis Sowjetunion bzw. der Gängelung und beschränkten Souveränität im Warschauer Pakt entkommen waren und sich angesichts dieser Erfahrungen dringlich dem Westen anschließen wollten. Das Minsk-Abkommen (wenngleich eine sehr ungleiche Abmachung) müsse endlich implementiert werden und der Ukraine die Kontrolle über ihre Ostgrenze zurückgegeben werden.
Während der Ukraine als Nicht-NATO-Mitglied militärisch nicht geholfen werde, müsse doch der Schutz aller NATO-Mitglieder unzweideutig sein. Keiner wisse, wie weit der russische Präsident zu gehen bereit sei in der Durchsetzung von Interessen mit militärischer Gewalt. So wurde im Einzelnen geschildert, welche Maßnahmen die NATO, „zurück in der Artikel 5-Welt“,beim Gipfeltreffen in Warschau (Juli 2016), aufbauend auf den Beschlüssen des vorherigen Gipfels in Wales (September 2014), getroffen habe, wie sich dies im Rahmen der NATO-Russland-Grundakte bewegten und das Minimum dessen seien, was den Grundsatz „ein Angriff auf einen wäre ein Angriff auf alle“ glaubwürdig manifestieren könne.
Vor diesem Hintergrund erörterte der Referent seine Interpretation des gleichzeigen Dialogangebots an Russland, das der Warschau-Gipfel betont hatte im Sinne der NATO-„Harmel-Philosophie“ „Verteidigung und Entspannung“. Bei noch so großer Verhärtung müsse das Angebot kooperativer statt konfrontativer Sicherheit bestehen bleiben – „für bessere Zeiten“.
Und Russland müsse – im Sinne seiner „wirklichen“ Interessen zweierlei erkennen: Zwar sei das Mantra richtig, dass langfristig Sicherheit in Europa nur mit, nicht gegen oder ohne Russland erreicht werden könne. Doch habe es die russische Politik bewirkt, dass Sicherheit vor Russland für viele zunächst wieder im Vordergrund stehe. Das sei auch nicht im russischen Interesse. Außerdem treffe es nicht zu, wenn Putin sage, die USA wollten Russland „kleinhalten“. Ein Russland, das sich (wie im leider recht singulären Fall der iranischen Nuklearwaffenambitionen) konstruktiv am globalen und regionalen Problemlösen beteiligte, anstatt sich hauptsächlich auf Störpotential, Verhinderungsmacht, Überrumpelungsmanöver, regionale militärische Überlegenheit, Destabilisierung und Furcht seiner Nachbarn zu stützen – ein solches Russland wäre auch als Großmacht hochwillkommen.
Einer Fülle von Anmerkungen zum notwendigen „neuen Denken“ in Russland und zur empfehlenswerten Selbstkritik des Westens folgten konkrete Ideen für kooperative Ansätze und „goldene Brücken“ für Russland sowie vor allem für den notwendigen und bisher versäumten systematischen Dialog über Russlands Platz in der europäischen Sicherheitsordnung. Doch sei die Voraussetzung eine Rückkehr des Kreml zu den gemeinsam verabredeten Regeln: Souveränität, territoriale Integrität, friedliche Streitschlichtung, Unverletzlichkeit von Grenzen. Keine Fehlentwicklung in der Ukraine und kein Fehler der NATO, der EU oder der USA rechtfertigten militärisches Eingreifen, Einschleusen von bewaffneten Provokateuren, Söldnern, Spezialkräften und Waffensystemen, gewaltsames Verschieben von Grenzen, Wegnahme von Teilen eines souveränen Staates.
Vorausschauende westliche Politik müsse das „neue Denken“ in Russland befördern. Eines Tages werde es sich auch durchsetzen – wenngleich möglicherweise nicht, solange Putin am Ruder sei. Jedenfalls sollten langfristige Angebote zur Zusammenarbeit einschließlich der ernsthaft erneuerten Ermutigung zu kooperativer statt konfrontativer Sicherheit ausgearbeitet und bereitgehalten werden – unter Berücksichtigung legitimer Interessengesichtspunkte sowohl Russlands als auch des Westens.
Die Schlusspointe des Vortragenden: Am Ende der diesjährigen deutsch-russischen Schlangenbader Gespräche sagte ein russischer Schriftsteller, einen prominenten Landsmann zitierend, der zuvor um Geduld geworben hatte mit dem Hinweis, der Weg vom Gulag zur Hyde Park Corner sei weit: „Ja, und wenn man ihn in der umgekehrten Richtung geht, ist er noch weiter!“