Maj i.G. Dr. Kai Lütsch “Der Geist des Krieges – Ein Neuansatz in der ganzheitlichen Betrachtung der Theorie des Krieges bei Carl von Clausewitz”
Vorwort zum Buch
Der Geist des Krieges
von Dr. Kai Christoph Lütsch
Was ist nicht schon alles über den preußischen General und Strategieexperten Carl Phillip Gottlieb von Clausewitz geschrieben worden. Passagen seines berühmten Werkes „Vom Kriege“ wurden und werden häufig zitiert, vielfach missverstanden, wiederholt instrumentalisiert, und sie sind auch nach fast zweihundert Jahren weiterhin aktuell und regen zu lebhaften Diskussionen an. In unserer gelegentlich als post-heroisch bezeichneten Gesellschaft werden heute Begriffe wie Krieg und Ausübung von militärischer Gewalt von vielen nahezu reflexartig zurückgewiesen, ideologisch als das „Böse schlechthin“ diskreditiert oder weitgehend tabuisiert bzw. möglichst ausgeblendet. Dabei hat sich bereits früh in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts gezeigt, dass mit der Beendigung des Kalten Krieges und der Jahrzehnte langen Phase der Ost-West-Konfrontation keineswegs das „Ende der Geschichte“ erreicht war, sondern die von vielen erhoffte paradiesische Friedensphase eine Illusion bleiben würde. Dennoch verweigern sich breite Kreise unserer Gesellschaft weiterhin einer objektiv sachlichen Auseinandersetzung mit den Ursachen, Motiven, Zielen, Zwecken, Ausprägungsformen, Strukturen, psychologischen Faktoren und Wirkungen gewaltsamer Auseinandersetzungen und vor allem mit ihrer extremsten Form, dem Krieg.
Vor diesem Hintergrund verlangt es schon eine gehörige Portion Mut, sich dem Thema „Der Geist des Krieges“ intensiv und öffentlichkeitswirksam zu widmen. Der Verfasser des vorliegenden Buches hat zudem mit dem Zusatz „Ein Neuansatz in der ganzheitlichen Betrachtung der Theorie des Krieges bei Carl von Clausewitz“ die Messlatte selbst sehr hoch gelegt. Beim Lesen seines mit höchster Akribie und bewundernswerter Kompetenz verfassten Werkes wird man vermutlich feststellen, dass diese Ausarbeitung in ihrer Grundanlage und differenzierten Gestaltung eigentlich überfällig war. Das Buch kann nicht nur einen außerordentlich wertvollen Beitrag zum zeitgemäßen Verständnis der Methoden und Erkenntnisse des militärtheoretischen Analysten und auch in der Praxis erfahrenen Generals Carl von Clausewitz leisten. Die vom Verfasser entwickelten beispielhaften Fälle und Szenarien, seine gut nachvollziehbaren Schlussfolgerungen und insbesondere auch seine klare, in wesentlichen Passagen ebenfalls konstruktiv kritische Auseinandersetzung mit der umfangreichen Sekundärliteratur zu Clausewitz‘ Hauptwerk machen deutlich, welche fortbestehende Aktualität und grundlegende Gültigkeit die zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts von Clausewitz erforschten Faktoren und Zusammenhänge zu den heute oft als unbequem, lästig oder gar unmöglich empfundenen Tatbeständen in Verbindung mit Krieg und gewaltsam ausgetragenen Konflikten besitzen.
Aufgrund seines frühen Todes war es dem General Carl von Clausewitz nicht mehr vergönnt, seine über viele Jahre hinweg erstellten Aufzeichnungen zu seinen Studien, analysierenden Untersuchungen und weiterführenden Gedanken ganzheitlich oder hinreichend geschlossen zu überarbeiten. Seiner intelligenten Frau und dann Witwe ist es zu verdanken, dass die umfangreichen Überlegungen posthum in dem berühmten Sammelband „Vom Kriege“ veröffentlicht wurden. In Kenntnis und feinfühliger Berücksichtigung dieser Umstände setzt sich der Verfasser des vorliegenden Buches in erstaunlicher Breite und beeindruckender Tiefe mit den im genannten Referenzwerk enthaltenen Erkenntnissen der Clausewitz‘schen „Theorie vom Kriege“ auseinander. Dabei stellt er die für Krieg und gewaltsam ausgetragene Konflikte relevanten komplexen politisch-militärischen Zusammenhänge in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen.
Sehr eindringlich und überzeugend gelingt es dem Verfasser aufzuzeigen, wie wichtig im Grunde ein hinreichendes gegenseitiges Verständnis zwischen Politik und Militär ist. Er unterstreicht dabei wiederholt und nachdrücklich, dass einerseits das militärische Führungspersonal Kenntnisse über die Grundlagen und Prozesse der Politik besitzen sollte und andererseits auch verantwortliche Politiker militärische Strategie und Taktik als „Instrumente der Politik“ verstehen sowie insbesondere die grundlegenden militärischen Fähigkeiten und wesentlichen Wirkungsmöglichkeiten kennen sollten.
Dankenswerter Weise wird vom Verfasser bei seinen Interpretationen der „Clausewitz’schen Theorie vom Kriege“ hinsichtlich der potentiellen Akteure kriegerischer Auseinandersetzungen auch die notwendige Transferleistung von Clausewitz‘ eher traditionellem „Staatsbegriff“ zu dem universelleren Begriff „politisches Gemeinwesen“ vorgenommen. Außerdem werden der Krieg oder ein gewaltsam, militärisch ausgetragener Konflikt nicht im eher herkömmlichen Sinn als Zustand, sondern als Prozess betrachtet, als „Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“. In seiner erweiterten Definition des Krieges bezeichnet der Verfasser den Krieg in treffender Weise als „eine wechselseitige politische Handlung, mit welcher ein politisches Gemeinwesen physische Gewalt anwendet oder androht, um hierdurch den Willen eines wehrhaften gegnerischen politischen Gemeinwesens zu überwinden und so den eigenen Willen zu verwirklichen.“
Die heute bei heraufziehenden oder eingetretenen Krisen und Konflikten häufig nahezu reflexhaft vernommene Äußerung, die Situation könne nicht militärisch gelöst werden, mutet – gerade auch im Licht der o.a. Anmerkungen – letztlich an wie eine vorschnelle Preisgabe eines wesentlichen Teils des politischen Instrumentariums. Deshalb ist es dem Verfasser des vorliegenden Buches als besonders verdienstvoll anzurechnen, dass er hinreichend überzeugend das Clausewitz‘sche Verständnis von Krieg oder militärischem Gewaltpotential und Diplomatie als sich wechselseitig komplementär ergänzende „politische Instrumente“ und politische Handlungsoptionen herausstellt. In seiner akribisch aufgearbeiteten, erfreulich differenzierten Analyse der politischen und militärischen Faktoren und Parameter, die u.a. Einfluss auf den Ausbruch, Verlauf, Dimension und damit letztlich auf die Strategien eines Krieges haben und in enger, dynamischer Wechselwirkung zueinander stehen, erläutert er eingängig nachvollziehbar die von Clausewitz unter dem Begriff „Wunderliche Dreifaltigkeit“ analysierten Zusammenhänge. Die dabei relevanten, vielfältigen „Begriffstriaden“, die im Grunde sehr weitreichend den Geist des Krieges beschreiben, stehen bei den detaillierten Ausführungen zu Recht im Mittelpunkt.
Der Verfasser des Buches verschweigt keineswegs, dass der Zusammenhang zwischen Krieg und Politik in der wissenschaftlichen Literatur zu erheblichen Auseinandersetzungen und verschiedensten Interpretationen geführt hat. Außerdem zeigt er klar auf, dass das konkrete und richtige Verständnis des Gefechts von zentraler Bedeutung für die Clausewitz’sche „Kriegstheorie“ ist. Dabei unterstreicht er ebenfalls zutreffend, dass die Politik den Krieg und die Grundlagen von gewaltsamen Auseinandersetzungen verstehen muss, wenn die Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt als Instrument der Politik in Erwägung gezogen werden kann oder soll, wie es bereits oben erwähnt wurde.
Mit begrüßenswerter Klarheit ist vom Verfasser insgesamt die Clausewitz’sche Erkenntnis herausgearbeitet worden, dass es keine grundsätzliche „Idealstrategie“ geben kann, sondern jede spezifische Strategie – die Clausewitz selbst als Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zwecke des Krieges definiert und die im Wesentlichen die Vorgabe von Raum, Umfang der Kräfte und zeitlichen Abläufen an die Taktik beinhaltet – vielmehr für den jeweiligen konkreten Fall einzeln zu prüfen, zu analysieren und abzuschätzen ist. Dabei kommt letztlich – stets und jeweils – auch einer klaren Definition des politischen Zwecks und des zu erreichenden Ziels eine besondere Bedeutung zu. Zugleich vermittelt der Verfasser einen detaillierten Einblick in die engen Zusammenhänge zwischen Strategie und Taktik, die von Clausewitz, wegen des (direkten) Aufeinandertreffens von gegnerischen Streitkräften, als die „Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht“ bezeichnet wird.
Im vorliegenden Buch wird dankenswerter Weise deutlich herausgestellt, dass die von Clausewitz und natürlich auch vom Verfasser vorgenommene Befassung mit Krieg und gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht als Befürwortung von Militarisierung oder gar Verherrlichung des Krieges verstanden werden darf. Zur Untermauerung dieses Verständnisses wird u.a. erwähnt, dass Clausewitz auch die Schrecken und die Brutalität des Krieges deutlich hervorgehoben hat. Nach Auffassung des Verfassers will Clausewitz mit seiner „Theorie des Krieges“ „keineswegs die Gestalt des Krieges in ihrer chamäleonhaften Vielfältigkeit darstellen oder abbilden“. Vielmehr ist es Clausewitz‘ Absicht und sein zentrales Anliegen, „die Grundidee und die innere Logik, d.h. den Geist des Krieges zu durchdringen, zu systematisieren und offenzulegen, um so in einem späteren Schritt verschiedene externe Faktoren in ihrer Wirkung auf den Geist des Krieges zu verstehen und erklären zu können, um Ergebnisse besser prognostizierbar zu machen und dem Menschen ein besseres Verständnis für ein Mittel an die Hand zu geben, welches er schon seit Jahrtausenden mal mehr mal weniger bewusst anwendet.“ Dieser einleuchtenden Interpretation folgend unterstreicht der Verfasser ebenfalls, dass sich die Clausewitz’sche Betrachtungsweise von anderen Kriegstheoretikern in fundamentaler Weise abhebt. Clausewitz betrachte den Krieg letztlich als eine aus rationalen Elementen bestehende Handlung(sfolge) und verleihe ihm damit eine deutlichere Gestalt. In der Clausewitz’schen Kriegstheorie sei die Zweckmäßigkeit der einzelnen Handlungen in Bezug auf den durch den Krieg zu verwirklichenden politischen Zweck der „normative Orientierungspunkt“. An die Stelle von gut und böse oder recht und unrecht trete bei Clausewitz das Attribut zweckmäßig oder unzweckmäßig.
Der Verfasser bietet begrüßenswerter Weise am Ende des Buches auch einige Ausblicke auf die weiterhin notwendige Übertragung der Methoden und Erkenntnisse von Clausewitz in die Neuzeit an, u.a. unter Berücksichtigung heutiger politischer, sozio-kultureller und technologischer Entwicklungen. Besonders deutlich wird das – neben der erwähnten Bedeutung moderner demographischer und politischer Faktoren zur Bevölkerungsentwicklung sowie zur Entwicklung von Rüstungs-/ Waffentechnologie – vor allem beim Thema der strategischen Beeinflussung von Bevölkerung mittels gesteuerter oder manipulierter Informationsversorgung, wie wir dies heute mit dynamisch rasant wachsender Zunahme im Cyber- und Informationsraum erleben. Aber auch potentielle Bedrohungen durch internationale organisierte Kriminalität, global agierenden Terrorismus und Proliferation von Massenvernichtungswaffen sowie zu deren Verbringung erforderlichen Trägermitteln verlangen weitergehende Analysen und entsprechende Transferleistungen zur sinnvollen und zweckorientierten Übertragung von Clausewitz‘schen Erkenntnissen in die heutige Zeit.
Wie bedeutsam und wichtig es ist, die Bestimmungsgrößen und Prozesse gewaltsamer, kriegerischer Auseinandersetzungen verschiedener „politischer Gemeinwesen“ als dynamische Prozesse zu betrachten und für die heutige und künftige Sicherheitsvorsorge und Verteidigungsfähigkeit ein ausreichendes Maß an Anpassungsfähigkeit und strategisch-operationeller Flexibilität im politisch-diplomatischen sowie militärischen Raum zu erlangen oder zu bewahren, das haben nicht zuletzt die tiefgehenden und sicher noch lange nachwirkenden Entwicklungen der letzten drei bis fünf Jahre im Bereich der regionalen und globalen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik gezeigt. Auch für die Bewertung dieser Lage und der absehbaren oder notwendigen Entwicklungen bieten die Clausewitz’sche „Theorie des Krieges“ und insbesondere das darin enthaltene Gedankenmodell der „Wunderlichen Dreifaltigkeit“ weiterhin eine vortreffliche Grundlage für die systematische Erfassung, Analyse und Bewertung komplexer, dynamischer Vorgänge und Zusammenhänge. Deshalb ist es umso mehr zu begrüßen, dass die Begriffswelt, die Grundzüge der Theorie und auch die Methodik des Generals Carl von Clausewitz in dem vorliegenden Buch in ausgewogen differenzierter, heute verständlicher Sprache und eingängig nachvollziehbarer Weise behandelt werden. Das Buch vermag damit hoffentlich einen weiteren wichtigen Beitrag zur notwendigen Versachlichung und dringend erwünschten Vertiefung eines möglichst intensiven Diskurses zur Sicherheitspolitik und Strategie mit breiten Kreisen der Gesellschaft zu leisten.
Kurt Herrmann, Präsident der Clausewitz-Gesellschaft e.V.