“Lernen aus Krisen – Stresstest für deutsche Behörden” – RK West am 22. 02. 2021
Gemeinhin gilt Deutschland als ein Land, das in all seinen Bereichen gut organisiert ist und auf allen Ebenen der staatlichen Hierarchie über eine wohlgeordnete funktionierende Verwaltung verfügt, um die es das Ausland oftmals beneidet. Seit Beginn der Pandemie, noch verstärkt in den ersten Monaten dieses Jahres, sind etliche Zweifel aufgekommen, ob unsere Behörden tatsächlich in der Lage sind, diese Krise im Gesundheitsbereich mit ihren Auswirkungen auf alle gesellschaftlichen Bereiche angemessen und effektiv zu bewältigen.
Der erstaunte Bürger musste feststellen, dass die Gesundheitsbehörden – trotz massiver personeller Unterstützung durch die Bundeswehr – in vielerlei Hinsicht überfordert waren, ihren Aufgaben in der Bekämpfung der Pandemie effektiv nachzukommen. Noch neun Monate nach dem ersten Auftreten in Deutschland wurden Daten per Fax oder E-Mail an das Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldet. Listen wurden manuell geführt und von Land zu Land, teilweise von Kommune zu Kommune, unterschiedliche Software verwendet. Aus Datenschutzgründen wurde eine Corona-Warn-App entwickelt, die wenig zur Eindämmung des Pandemiegeschehens beitragen konnte. Insgesamt fehlte überall die Daten- und Faktenbasis für sachgerechte Entscheidungen und erst recht eine erfolgversprechende übergreifende Strategie, an der allerdings die Regierungen auf Bundes- und Länderebene anscheinend auch wenig Interesse hatten.
Auch in anderen Bereichen traten massive Defizite auf: Die Schulen waren auf einen Distanzunterricht nicht vorbereitet, die versprochenen Hilfen für Wirtschaft und Kultur flossen nur zäh. Es zeigte sich überdeutlich, dass unser Land im Hinblick auf die Digitalisierung in der Welt und auch in Europa nicht gerade zu den Spitzenreitern zählt. Natürlich war eine solche Krise nicht konkret vorherzusehen, obwohl es Warnungen vor vergleichbaren Szenarien schon seit Jahren gegeben hatte. Aber es stellt sich schon die Frage, ob die beispielhaft aufgezeigten Defizite in dieser Lage als unveränderlich hingenommen werden müssen oder ob man Behörden auch in überschaubarer Zeit auf signifikant veränderte Herausforderungen einstellen kann.
Da lag es auf der Hand, jemanden dazu zu hören, der mehrfach bewiesen hatte, dass er in der Lage ist, eine Behörde in kurzer Zeit so zu ertüchtigen, dass sie neue und ungewöhnliche Herausforderungen angemessen bewältigen kann. Gemeint ist damit das Mitglied unserer Gesellschaft und ehemaliger Sprecher des Beirats Dr. Frank-Jürgen Weise. Er hat mit seinen vielfältigen Erfahrungen aus Bundeswehr und Industrie entscheidend daran mitgewirkt, die Arbeitsvermittlung in Deutschland zu reformieren. Von 2004 bis 2017 führte er die Bundesagentur für Arbeit als Vorsitzender des Vorstands. Darüber hinaus hat er von September 2015 bis Dezember 2016 zusätzlich die Leitung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) übernommen und den Kontrollverlust des Staates in der Flüchtlingskrise beendet. Auch für die Bundeswehr und das BMVg hat Dr. Weise mit der nach ihm benannten Kommission im Jahr 2010 wichtige Strukturimpulse gegeben.
Der seit langem geplante Vortrag Dr. Weises zu seinen Erfahrungen als Leiter des BAMF konnte nun endlich, unter den corona-bedingten Einschränkungen, mit etwas veränderten Schwerpunkten als Online-Veranstaltung realisiert werden. Die geschilderten Defizite bei der Bekämpfung der Pandemie in Deutschland gaben ihm eine beklemmende Aktualität.
Dr. Weise wies eingangs darauf hin, dass das Verhältnis des Bürgers zum Staat nicht nur von den Verlautbarungen der Regierungen, sondern vor allem durch die Arbeit der Behörden im täglichen Betrieb geprägt werde. Rechtstaatlichkeit und Leistungsfähigkeit der Behörden des Bundes, der Länder und Kommunen gegenüber den Bürgern seien unabdingbare Voraussetzungen für eine starke Demokratie. Dazu müssten Behörden nicht nur korrekt und effektiv, sondern auch zügig arbeiten. Zustände, in denen Menschen, die um Asyl nachsuchten, monatelang auf die Entscheidung eines Antrags oder auf einen Termin warten müssten, seien nicht hinnehmbar.
Eine notwendige Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit von Behörden sei die Kompetenz des Personals, sowohl im Hinblick auf die Führungs- als auch die Fachkräfte. Bei der Erläuterung der Anforderungen an das Führungspersonal rekurrierte Dr. Weise auf den ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr Admiral Dieter Wellershoff, der in seinem Buch „Führen“ mit dem Untertitel „Wollen – Können – Verantworten“ die soziale, die fachliche und die methodische Kompetenz als Voraussetzung für Führungskompetenz bezeichnet hatte. In leicht veränderter Diktion und in umgekehrter Reihenfolge führte Dr. Weise dazu im Einzelnen aus:
Das „Dürfen“ verlange Good Governance, die in seiner Interpretation starke Anklänge an das militärische Führungsprinzip der Auftragstaktik erkennen ließ. Die Ministerien sollten den Behörden klare Zielsetzungen vorgeben, während die Behörden Freiheitsgrade haben müssten, wie die Aufgaben erledigt werden sollten.
Das „Können“ verlange gutes Wissen, sorgfältige Analyse und ggf. den Einsatz von Beratern.
Das „Wollen“ verlange gute Ausbildung, Werte, eine klare erkennbare Haltung, Berufserfahrung und Entschlossenheit.
Alle Stichworte unterlegte Dr. Weise mit seinen reichhaltigen Erfahrungen und zahlreichen interessanten Episoden, vor allem aus seiner Zeit bei der Bundesagentur für Arbeit und als Leiter des BAMF. Dabei stellte er vor allem heraus, wie eingefahrene Prozesse hätten optimiert werden müssen und wie die Digitalisierung vorangetrieben worden sei – nicht zur Arbeitsvereinfachung, sondern um hohe Anforderungen überhaupt schnell und effizient bewältigen zu können.
Viele dieser Erkenntnisse ließen sich im Rahmen von gelegentlichen „Stresstests für Behörden“ als Vorbereitung auf krisenhafte Entwicklungen auch in anderen Bereichen nutzen. Dr. Weise betonte zwar, dass sich der Charakter von Krisen im Arbeitsmarkt und in den Themen Migration und Flüchtlinge von einer Pandemie unterscheide, konnte aber den Eindruck des Auditoriums, dass im Grundsätzlichen viele der vorgetragenen Erfahrungen und Erkenntnisse sehr wohl auf die aktuelle Situation übertragbar seien, nicht ausräumen.
In diese Richtung bewegten sich auch die meisten Fragen und Anregungen während der abschließenden Aussprache. Das Bedauern darüber, dass Anstrengungen wie in der Flüchtlingskrise in der derzeitigen Lage offenbar nicht in Erwägung gezogen wurden, war deutlich herauszuhören. Denn ein reibungsloses Funktionieren unserer Behörden auf allen Ebenen erwartet man eigentlich in einem Land wie Deutschland immer; in der derzeitigen Lage jedoch ist es essenziell.
Zu Beginn der Veranstaltung hatte der Leiter des RK WEST des verstorbenen Generals a.D. Karl-Heinz-Lather, Mitglied der Clausewitz-Gesellschaft seit mehr als 40 Jahren, mit einer Würdigung seines Lebens und Wirkens sowie einer Gedenkminute gedacht.
Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.