Bericht zum 13. Clausewitz-Strategiegespräch am 19.09.2018 in Berlin
13. Clausewitz-Strategiegespräch: „Gemeinsame europäische Sicherheit und Verteidigung: Fiktion oder realistisches Ziel? – Hat Europa den „Weckruf“ in Sachen Sicherheit verstanden?
In den letzten Monaten scheint Europa in eine vorher für nahezu unmöglich gehaltene Zwangssituation geraten zu sein. Der traditionelle westlich demokratische Wertekonsens sowie die über Jahrzehnte vertraute Sicherheit und Stabilität im transatlantischen Kontext werden durch zahlreiche gleichzeitig auftretende krisenhafte Entwicklungen herausgefordert. Im Inneren wächst die Gefahr, dass nationalistische und populistische Kräfte den Zusammenhalt der Europäischen Union (EU) zunehmend schwächen. Der anhaltende Migrationsdruck, die noch nicht völlig überwundene Finanzkrise und der anstehende BREXIT wirken dabei vielfach wie “Krisenbeschleuniger”. Vor diesem Hintergrund fand am 19. September das 13. Clausewitz-Strategiegespräch zum Thema „Gemeinsame europäische Sicherheit und Verteidigung: Fiktion oder realistisches Ziel?“ in der Vertretung des Landes Sachsen-Anhalt beim Bund in Berlin statt.
Vor über 200 Teilnehmern wurde diese gemeinsame Veranstaltung der Clausewitz-Gesellschaft (CG), der Deutschen Atlantischen Gesellschaft und der Landesvertretung durch den Stellvertretenden Dienststellenleiter, Ministerialrat Hennig Baumhp eister, und den Präsidenten der Clausewitz-Gesellschaft, Generalleutnant a.D. Kurt Herrmann, eröffnet.
Frau Dr. Jana Puglierin, die Programmleiterin im Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), lieferte erste Impulse mit ihrem Vortrag zum Thema “Sicherheitspolitische Herausforderungen und Perspektiven der strategischen Entwicklung der EU im transatlantischen Kontext”. Sie unterstrich, wie wichtig es ist, eine Fragmentierung in Europa zu verhindern. Obwohl die Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten, Souveränität in Verteidigungsfragen an Brüssel abzugeben, eher verhalten sei, bleibe das Konzept der Europäischen Verteidigungsunion ein erstrebenswertes Ziel. Vorrangig gelte es, die verschiedenen Initiativen von NATO und EU zur Gewährleistung von Sicherheit in und für Europa zusammenzubinden.
Generalleutnant Hans-Werner Wiermann, der Deutsche Militärische Vertreter beim Militärausschuss der NATO und der EU befasste sich danach mit dem Sachstand und den Perspektiven der verteidigungspolitischen Entwicklung und Streitkräftestrukturen in der EU und der NATO. Er stellte u.a. heraus, dass es keine Sicherheit ohne europäische Zusammenarbeit geben könne. Zugleich hob er die weiterhin vitale Bedeutung des US-Engagements für die Sicherheit Europas hervor. Weiterhin stimmte er auch mit Dr. Puglierin inhaltlich überein, dass die USA aus strategischer Sicht ein fortgesetztes Interesse an der Aufrechterhaltung einer deutlich wahrnehmbaren Präsenz auf unserem Kontinent haben müssten.
In der von Herrmann moderierten Diskussionsrunde standen dann folgende Fragen im Mittelpunkt:
– Welche politischen und militärischen Grundvoraussetzungen sind für die Gewährleistung von Sicherheit in und für Europa erforderlich?
– Wie können sich die Europäer effektiv verteidigen?
– Was wird konkret für den Schutz bzw. die Verteidigung von Bürgern, Gesellschaften und Staaten benötigt?
– Wer kann und wer sollte die entsprechenden Beiträge liefern?
Hinsichtlich des bisher erreichten Standes sowie der weiteren Perspektiven einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU sowie einer darauf aufbauenden Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) zogen die beiden Referenten eine eher ernüchternde Bilanz. Allerdings wurden durchaus Fortschritte bei der Umsetzung der 2016 veröffentlichten Globalen Strategie der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik festgestellt. Die bisherigen Ergebnisse reichten jedoch bei weitem nicht aus, der Außen- und Sicherheitspolitik der EU die Beachtung und Anerkennung zu verschaffen, die eine wirtschaftlich starke Gemeinschaft mit mehr als 500 Millionen Einwohnern eigentlich verdient. Zumindest mit Zurückhaltung wurde auch die Frage beantwortet, ob der seit 2014 und verstärkt seit 2016 eingetretene grundlegende Wandel der Sicherheitslage von allen Staaten der EU wirklich als “Weckruf” verstanden worden ist. Zweifel wurden laut, ob bei einigen Regierungen von EU-Staaten tatsächlich der Wille besteht, auch die notwendigen Konsequenzen durch Bereitstellung ausreichender Ressourcen für die Sicherheitsvorsorge zu ziehen.
In der lebhaft geführten Diskussion wurden die aktuellen Themen, wie z.B. Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO), Europäische Verteidigungsunion sowie Europäischer Verteidigungsfonds, Interventionsinitiative des französischen Präsidenten Macron, Europäische Armee oder Armee der Europäer, Aufgabenverteilung sowie Kooperation zwischen NATO und EU, Streitkräfteplanung, Pooling & Sharing (P&S), Rahmennationen-Konzept (Framework Nation Concept, FNC) und strategische Autonomie erörtert. Dabei wurde u.a. auch gefordert, die Gewährleistung von Sicherheitsvorsorge und Verteidigung für Europa in den Gesamtrahmen des vernetzten Ansatzes zu stellen. Breiten Raum nahmen zudem das Verhältnis der EU und NATO zu Russland sowie Aspekte einer Reform der europäischen Rüstungspolitik ein. Ebenfalls kritisch hinterfragt wurden die sicherheitspolitischen Aspekte von Energieversorgung, Gültigkeit sowie Implikationen der aktuellen Nuklearstrategie und neue Herausforderungen im Zuge zunehmender Verschmelzung von innerer und äußerer Sicherheit, z.B. durch den international agierenden Terrorismus und durch Risiken und Bedrohung im Cyber- und Informationsraum.
Weitestgehendes Einvernehmen bestand, dass die NATO auch weithin das Rückgrat europäischer Sicherheit und Verteidigung bilden muss und wird. Auf die strategischen Fähigkeiten der USA könne auf absehbare Zeit nicht verzichtet werden. Der notwendige Wiederaufbau und Ausbau militärischer Fähigkeiten der EU-Staaten sei erforderlich. Dies solle jedoch komplementär ergänzend zu den für die NATO bereitgestellten Fähigkeiten unter Beachtung der nur einmal vorhandenen Kräfte und Mittel (“single set of forces” Prinzip) erfolgen. Konkrete Ansätze zur Stärkung des europäischen Beitrags im Bündnis wurden aufgezeigt. Hingewiesen wurde jedoch auch darauf, dass die im Rahmen der NATO gegebenen Verpflichtung zur prozentualen Aufwendung von Verteidigungsleistungen, entsprechend der immer wieder erwähnten Zielgröße von 2% des Brutto Inlandsprodukts (BIP), weiterhin Gültigkeit besitzen und Fähigkeits-bezogen eingelöst werden sollten. Letztlich sei dies auch eine Frage der Glaubwürdigkeit der Verteidigungsbereitschaft der einzelnen EU-Staaten.
Der Moderator erwähnte in seinem verhalten optimistischen Fazit, dass die Gemeinsame Sicherheit und Verteidigung Europas durchaus ein wichtiges und realistisches Ziel sei und bleibe. Es bedürfe jedoch des verstärkten politischen Willens aller EU Staaten, die gestellt Mammutaufgabe zu bewältigen. Hierzu sei auch eine breitere öffentliche Debatte über konkrete Fragen der Sicherheit und Verteidigung in Europa wünschenswert.
Etliche der aus Zeitgründen lediglich angerissenen Themen wurden dann beim nachfolgenden Empfang in kleineren Gruppen angeregt weiter diskutiert.
K.H.