Berliner Colloquium 2019: Wohin steuert das “Friedensprojekt Europa” in stürmischen Zeiten?
Europa braucht strategischen Weitblick, den gemeinsamen Willen zur konkreten Umsetzung einer multilateralen Politik und die verlässliche Bereitschaft zur tatsächlichen Bereitstellung notwendiger Ressourcen für seine Sicherheit und Verteidigung.
Kurzbericht über das Berliner Colloquium, eine Gemeinschaftsveranstaltung der Clausewitz-Gesellschaft e.V. und der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) vom 3. bis 5. April 2019 im VCH-Hotel Christophorus in Berlin-Spandau zum Thema „ Vereint stark? – Europa unter Druck – Die gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik gegen den Angriff auf eine liberale Weltordnung?“
Festlicher Auftakt mit kritischem Blick eines überzeugten Europäers auf die EU
Wohl intonierte Klänge des Heeresmusikkorps Neubrandenburg begleiteten bei strahlendem Frühlingswetter die Eröffnung des Berliner Colloquiums 2019. Erneut fand diese Gemeinschaftsveranstaltung der Clausewitz-Gesellschaft e.V. und der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) in einer beschaulich gelegenen Tagungsstätte in Berlin-Spandau statt.
Einen inhaltlich präzise platzierten Aufschlag setzte der Chefredaktor der Neuen Züricher Zeitung, Eric Gujer, bei einem festlichen Abendessen am Vortag mit seinem Gastvortrag zum Thema “Die Europäische Union (EU), das europäische Friedensprojekt des 20. Jahrhunderts, betrachtet aus der Sicht eines Nicht-EU-Bürgers”. Mit erfrischend kritischem Blick identifizierte er unterschiedliche Staatsverständnisse der Mitgliedsstaaten als Kernproblem der EU. Seiner Auffassung nach erleben wir eine Renaissance der Nationalstaaten; etliche Staaten strebten nach Dezentralisierung und Eigenständigkeit. Eine Lösung für die aktuellen Probleme der EU bietet sich nach Gujers Auffassung u.a. durch “Rückbau” zu mehr Subsidiarität bzw. durch ein modulares Konzept mit der Option unterschiedlicher Geschwindigkeiten und spezifisch differenzierter Integration. Mehrfach stellte er die besondere Verantwortung Deutschlands als zentrale Macht in Europa heraus.
Europa in schwieriger Lage
Vor über 200 Teilnehmer führte der Präsident der BAKS, Dr. Karl-Heinz Kamp, bei der offiziellen Eröffnung der Tagung mit einer sicherheitspolitischen Bewertung der Lage in und um Europa in die eigentliche Tagung ein. Dabei standen vor allem die aktuelle Politik der US-Administration unter Präsident Trump, die machtpolitischen Ambitionen der Volksrepublik China, die zunehmend anti-westliche sowie aggressive Haltung Russlands und nicht zuletzt auch das BREXIT-Chaos im Mittelpunkt seiner Ausführungen. Aufmerksamkeit erzeugte sein Satz, dass Europa in einer existentiellen Krise sei, und darin auch scheitern könne. Neben den bekannten Krisenstaaten trage aber auch Deutschland zu Spannungen bei, u.a. mit seiner Haltung zum Nordstream-Projekt. Euphorie jedenfalls über Erfolge wie PESCO oder der Europäische Investitionsfond seien unangebracht. Man müsse sich an den Gedanken gewöhnen, dass Autokratien auch erfolgreich sein könnten, wie Trumps Amerika oder China. Die Frage sei, ist der westliche Wertevorrat wirklich auf Dauer erfolgreich im Pluralismus? Und wo bleibt Europa, wenn möglicherweise die zukünftigen Pole Washington und China sind?
In seiner ergänzenden Begrüßung ging der Präsident der Clausewitz Gesellschaft u.a. auf den siebzigsten Gründungstag der NATO ein und würdigte die Bedeutung der westlichen Werteordnung sowie des Multilateralismus als bevorzugte Strategie zur Lösung von Problemen, die von einzelnen Staaten nicht mehr allein bewältigt werden können. Dabei erwähnte er u.a., dass gerade der Multilateralismus ein fundamentaler Grundsatz und hohes Ziel des Außenverhaltens der EU sei. Vor dem aktuellen Hintergrund vielfältiger Angriffe auf den Multilateralismus wies er auf die Notwendigkeit hin, Europa konkret handlungsfähiger zu machen und ihm auch die für durchsetzungsfähige Diplomatie ggf. notwendigen Werkzeuge und Mittel, incl. militärischer Fähigkeiten, konkret und glaubwürdig bereitzustellen.
Westliche Werteordnung und Multilateralismus
In einer ersten Gesprächsrunde galt es gesamtpolitische Rahmenbedingungen und grundlegende Einflüsse auf die internationale Rolle und grundlegende Ausrichtung der Politik der EU zu analysieren. Dazu trugen zunächst vor:
- Bundesminister a.D. Professor Dr. Klaus Töpfer zu “Europa allein als Verteidiger des Multilateralismus”
- Professor Dr. Johannes Varwick zu “Wie soll ein Bündnis bzw. eine Union mit Staaten umgehen, die von der gemeinsamen Werteordnung abweichen” und
- Dr. Josef M. Braml zu “Washingtons Angriff auf die liberale Weltordnung”.
Die drei Referenten vertieften dann einzelne Aspekte des Themenkomplexes unter der Leitung von Brigadegeneral a.D. Rainer Meyer zum Felde. Die Podiumsdiskussion wurde später auch für Fragen und Kommentare aus dem Auditorium geöffnet. Es kamen u.a. zur Sprache:
- Grundlegende Veränderungen der Wertesysteme und der Machtbasen durch vielfältige geopolitische Umbrüche, klimatische sowie ökonomische Veränderungen und zunehmende Fixierung oder Einengung der Entscheidungsspielräume von Politik durch zuvor getroffene Entscheidungen.
- Erforderliche neue Globalisierungsansätze durch Verschiebung der bisher vertrauten multilateralen zur multipolaren Werteordnung infolge dramatischer Veränderungen der Lage seit den späten neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und nochmals verstärkt seit 2014, dazu sind auch neue Strukturen in Europa erforderlich.
- Handlungsoptionen für Bündnisse oder Unionen bei Verletzung von Werten und Normen durch Mitgliedstaaten; Möglichkeiten und Grenzen pragmatischer Lösungen und Bewertung von Ziel-Zweck-Mittel-Relationen
- Erschütterung der liberalen Weltordnung durch Abwendung des bisherigen „Hegemons“, USA, von der liberalen Ordnung. Aber: „America first“ does not mean „America alone“, wir sollten vielmehr auch unter diesen Umständen gemeinsame Probleme lösen, nicht um Amerika einen Gefallen zu tun, und nicht das Kind mit dem Bade ausschütten.
- Risiken von außenpolitischen Machtvakuen, die durch den Rückzug der USA aus ihrer bisherigen Führungsrolle entstanden sind und weiter entstehen
- Ausgaben für unser Militär sollten erhöht werden, nicht, um Trump zu gefallen, sonder um uns selbst zu schützen.
- Gefährdung demokratischer Strukturen und Prozesse durch eine schleichende Dysfunktion von „Checks & Balances“ in den USA
- Erforderliche neue Globalisierungsansätze in einer Werteordnung, die anstelle einer multilateralen zunehmend durch eine multipolare Ausrichtung bestimmt wird, [aber: sind wir Deutschen Multilateralismus-tauglich?]
- Plädoyer für die Einrichtung eines nationalen Sicherheitsrats zur besseren Vernetzung aller für die gesamtstaatliche Sicherheitsvorsorge relevanten Politikbereiche.
Nachbarn und Partner und/oder Konkurrenten der Europäischen Union
Eine zweite Gesprächsrunde richtete den Blick auf das konkrete Verhältnis der EU zu Staaten, die von besonderem Interesse für die EU sind. Hierzu trugen zunächst vor:
- Professor Dr. Andreas Heinemann-Grüder zu “Russland – der große unberechenbare Nachbar der EU”
- Dr. Guido Steinberg zu “Wohin steuern Türkei, Iran und Saudi-Arabien?”
- Dr. Sarah Kirchberger zu “China: Partner oder Konkurrent der EU?”.
In den Vorträgen und der anschließenden Diskussion, unter der Leitung von Professor Dr. Carlo Masala, standen u.a. folgende Themen im Mittelpunkt:
- Weitgehend enttäuschte Hoffnung auf System-Konvergenz mit Russland und anderen Staaten in Richtung westlicher, demokratisch-rechtsstaatlicher Strukturen und Prozesse, aber auch Enttäuschungen auf russischer Seite, mit „postimperialen Phantomschmerzen“.
- Die neue „EU-Konnektivitätsstrategie“ als erster Schritt hin zu einer besseren Koordinierung verschiedener regional-spezifischer EU-Instrumente, u.a. auch im Vergleich zur chinesischen „Belt and Road Initiative“ (Chinas neue „Seidenstraße“).
- Die notwendige Suche nach gemeinsamen Themen mit Russland, trotz dessen Großmachtambitionen, Entfremdung vom Westen, Verletzung völkerrechtlicher Normen sowie geschlossener Verträge und aggressiver Haltung, insbesondere auch hybrider Bedrohungen.
- Möglichkeiten und Chancen Europas zum Umgang mit der im Chaos versunkenen Nah-Mittel-Ost-Region, dabei sollten wir berücksichtigen, dass die drei so unterschiedlichen Staaten Russland, Türkei und Saudi-Arabien etwas gemeinsam haben: sie bieten Modelle für die Region.
- Notwendiges geschlossenes Auftreten und Mut zum unabhängigen Denken im Verhältnis der EU sowie ihrer Mitgliedsstaaten gegenüber China.
- Mögliche Ansätze zur Überwindung der derzeit eher negativen Grundstimmung innerhalb der EU zur Gemeinschaft
- Abschließend stellte ein prominenter Tagungsteilnehmer die Frage: „Kann man tatsächlich diese verschlafene Berliner Wohlfühlrepublik bewegen, von innenpolitischen Petitessen abzusehen und sich den strategischen Herausforderungen zu stellen?“
Bilanz der bisherigen Entwicklung und Realisierung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GAPS) und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSPV) der EU
Das Panel Nr. 1, moderiert von Jan Techau, richtete den Fokus auf die konkrete Lage der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Sophia Besch, Dr. Ronja Kempin und Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß hoben während der Diskussion u.a. folgende Aspekte deutlich hervor:
- Die Außen- und Sicherheitspolitik der EU hat immer noch nicht die Anerkennung und Beachtung gefunden, die eine wirtschaftlich starke Gemeinschaft mit mehr als 500 Millionen Einwohnern eigentlich verdient. Die Wirtschaftsmacht EU wird bisher kaum als strategischer Akteur in einer multipolaren Welt wahrgenommen. Es mangelt ihr an außen- und sicherheitspolitischer Effizienz sowie an ausreichenden militärischen Fähigkeiten zur eigenständigen Wahrung ihrer Sicherheit (Kritik-Parole: „promising a lot, but delivering little“).
- Die neue „Globale Sicherheitsstrategie der EU“ stand bei ihrer Veröffentlichung im Sommer 2016 im Schatten des BREXIT-Referendums und hat auch seitdem kaum hinreichende öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Eine Fortschreibung für 2020 erscheint ratsam, wobei dann ein eher „aktiver Grundansatz“ unter Berücksichtigung der notwendig Bewusstsein-Veränderung infolge der inzwischen eingetretenen geopolitischen Verwerfungen gewählt werden sollte.
- Die bisweilen erhobene Forderung nach „Strategischer Autonomie der EU“ wird in undifferenzierter Form eher als unrealistisch oder sogar schädlich bewertet. Darüber hinaus scheint es ein Missverständnis auf beiden Seiten des Atlantiks darüber zu geben, was strategische Autonomie bedeuten soll. Nicht zuletzt angesichts des kategorischen Wandels im Verhältnis der NATO zur EU, hin zur effektiven Kooperation, sind der Aufbau und die Bereitstellung von strategischen Mittel („strategic enablers“) durch die EU oder ihre Mitgliedsstaaten, komplementär ergänzend zu den geplanten oder realisierten Fähigkeiten der NATO, allerdings anzustreben.
- Europa muss zusammenhalten und eigene Fähigkeiten für die Sicherheitsvorsorge bereitstellen. Die diesbezüglich bisher erzielten Erfolge und der inzwischen etablierte positive Trend sollten herausgestellt und genutzt werden.
- Deutschlands Verteidigungsbeitrag steht nicht zuletzt wegen der geopolitischen Lage und der wirtschaftlichen Potenz unseres Landes im Fokus der Kritik von Verbündeten und Partnern; einem Vertrauensverlust gilt es entgegen zu wirken. (Zitat: „Weniger als 1,5 % sind eine schwerer Schlag für die Vertrauenswürdigkeit)
- Gefordert wurde auch eine aktive deutsche Rüstungspolitik. Dazu müsste es eine Harmonisierungsdebatte für die nächsten Jahre der Rüstungsexportpolitik in Europa geben.
- Beklagt wurde auch, dass das aktuelle Weißbuch nicht im Bundestag debattiert wurde.
Wie sollte Europa (die EU) auf die veränderten Verhältnisse zu den USA, zu Russland, und China reagieren? – Bedarf es eines Neuansatzes für den Multilateralismus bzw. für das künftige Verhältnis der EU zu den o.a. Staaten?
Das Panel Nr. 2 setzte sich schwerpunktmäßig mit der Frage auseinandersetzen, wie Europa, bzw. die EU, auf die veränderten Verhältnisse zu den drei global agieren Mächten, USA, Russland und China, reagieren sollte. Diese Frage und die Zusatzfrage nach einem eventuell notwendigen Neuansatz für den Multilateralismus diskutierten, unter der Leitung von Nora Müller, Dr. Jana Puglierin, Professor Dr. Eberhard Sandschneider und Professor Dr. Biscop. Fragen und Kommentare aus dem Auditorium wurden unmittelbar mit einbezogen. Einige ausgewählte Bespiele seien hier erwähnt:
- Die Notwendigkeit zur Aktualisierung der 2016 erlassenen „Globalen Sicherheitsstrategie der EU“ wurde erneut unterstrichen; eine strategische Handlungsfähigkeit der EU mehrfach angemahnt. Hier wurden erstmals die europäischen Interessen definiert (naturgemäß unter Einschluss Großbritanniens), aber bisher noch nicht implementiert. Die Globale Sicherheitsstrategie der EU sollte allerdings nicht in Konkurrenz zu den USA oder der NATO betrachtet werden, sondern komplementär ergänzend zur NATO entstehen.
- Die Forderung nach Schließung der vorhandenen Fähigkeitslücken im militärischen Bereich wurde bekräftigt.
- Mehr Realismus im Verhältnis der EU zu China wurde angemahnt, das nach eigenen Aussagen bis 2050 digitale Weltmacht sein will.
- Europas Rolle und Position in der „digitalen Revolution“ wurde kritisch beleuchtet und die Konsequenzen aus einer vor allem von US-Präsident Trump verfolgten Kopplung von Sicherheits- und Wirtschaftspolitik sehr skeptisch bewertet.
- Einvernehmlich wurde festgestellt, dass das Verhältnis der aufstrebenden Macht China mit der im Abstieg befindlichen Macht Russland eingehender betrachtet und in seinen Auswirkungen auf Europa bzw. die EU differenzierter bewertet werden müsse.
- Weitgehendes Einvernehmen bestand, dass es einen Multilateralismus à la carte künftig für Europa nicht (mehr) geben werde und man sich zugleich um ein vernünftiges Maß an Pragmatismus im Verhältnis zu autoritär regierten Staaten bemühen sollte, ohne grundlegende westliche Werte aufzugeben. Zitat: „Wir Europäer können nicht länger auf dem Zaun sitzen, der Druck auf die EU wird steigen.“
- Gefordert wurde eine klare Positionierung der EU und Deutschlands zugunsten „des Westens“; zugleich wurde eine „Äquidistanz“ zwischen dem Westen einerseits und Russland bzw. China andererseits abgelehnt.
Was ist konkret notwendig, um die außen- und sicherheitspolitische Rolle der EU wirksam und nachhaltig zu stärken?
Der Journalist und Buchautor, Herr Werner Sonne, griff als Moderator des Panels № 3 sofort die jüngst entstandene Verschärfung der Lage in Libyen auf und richtete an die Teilnehmer seines Panels Fragen zur konkreten Haltung und zu möglichen Schritten der EU in dem Konflikt. Dr. Claudia Major, MdB Dr. Fritz Felgentreu und Ministerialdirektor Géza Andreas von Geyr stellten sich diesen und weiteren Fragen. Dabei kamen u.a. zur Sprache:
- die Idee eines deutsch-französischen Flugzeugträgers,
- die Vorstellungen zu einer „Europäischen Armee“ oder „Armee der Europäer“
- Fragen zur Rüstungszusammenarbeit in Europa
- die Thematik der „Nuklearen Teilhabe“ und
- die „Permanente Strukturierte Zusammenarbeit“ (engl. Abkürzung: PESCO).
Wiederholt wurde dabei festgestellt, dass man in der EU noch weit entfernt sei von einer effektiven praktischen Zusammenarbeit in außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Angelegenheiten. Häufig fehle es an klaren Vorstellungen, was man eigentlich wolle; es mangele u.a. an zukunftsorientierten Visionen. Bemängelt wurde z.B. auch ein ambivalenter Eindruck über Deutschlands Rolle und Verlässlichkeit in diesem Kontext.
Demgegenüber wurden vor allem die europäische Perspektive des Aachener Vertrags zwischen Deutschland und Frankreich, vom 22. Januar 2019, Überlegungen zu deutsch-französischen Rüstungsprojekten, wie Future Combat Air System (FCAS) und Main Ground Combat System (MGCS), als Symbole für ein Zukunftsbild erwähnt. Darüber hinaus erfolgten Hinweise auf die bereits eingeleiteten Integrationsschritte Richtung einer „Armee der Europäer“.
Als ein innovativer Neuansatz für eine „Europäische Armee“ wurde von einem Panellisten der Vorschlag zur Aufstellung eines eigenständigen europäischen Kampfverbandes, evtl. in Brigadestärke, neben den bestehenden nationalen Streitkräften und unter Kontrolle des Europäischen Parlaments ins Spiel gebracht. Hierzu erfolgte von anderer Seite zugleich der Hinweis auf die dafür notwendigen Grundlagen, insbesondere eine wahrhaft politische Union, gemeinsame strategische Grundlagen, gemeinsame Rechtsgrundlagen und verlässliche industrielle Kooperation. Verbunden wurde dieser Hinweis auch mit Kritik an der eher schleppenden oder bisher nicht erfolgten Realisierung von PESCO-Vorhaben und einer damit verbundenen Wiederaufnahme nationaler Vorhaben. Unterstrichen wurden allerdings die speziellen Vorteile von PESCO-Vorhaben, die nicht der Einstimmigkeit aller EU-Mitgliedsstaaten bedürfen, und somit rasche Verbesserungen der Fähigkeiten in den Bereichen Fähigkeitsbereitstellung, Aus- und Weiterbildung sowie Einsatz-bezogene Projekte versprechen.
Als zentrale und entscheidende Voraussetzung für eine effektive Rüstungszusammenarbeit in Europa wurden ein klares Konzept und darauf basierende Regelungen für den Rüstungsexport identifiziert.
Die Thematik der „Nuklearen Teilhabe“ wurde insbesondere in Verbindung mit der Kündigung des INF-Vertrags durch Russland und die USA, der anstehenden Nachfolge für das Waffensystem TORNADO und den in jüngster Zeit aufgekommenen Zweifeln an der Verlässlichkeit des nuklearen US-Schutzschirmes über Europa infolge irritierender Äußerungen von US-Präsident Trump erörtert. Weitgehendes Einvernehmen bestand, dass sich unsere Sicherheitslage durch den russischen Bruch des INF-Vertrags verschlechtert hat. Nicht zuletzt wurde bestätigt, dass die nukleare Teilhabe Deutschlands „verzugslos sichergestellt“ werden muss und ggf. eine Zwischenlösung für das luftgestützte Trägersysteme (TORNADO) zu finden ist.
In Verbindung mit der Empfehlung zur Erstellung eines „Europäischen Weißbuchs zur Sicherheit“ wurden Forderungen nach Definition des strategischen Willens der EU, Einrichtung einer wirksamen Führungs- und Kontrollstruktur („governance structure“), Festlegung von notwendigen Fähigkeitsprofilen in allen Sicherheits-/Verteidigungs-relevanten Bereichen und realistischen, praktikablen Regelungen für die Rüstungsindustrie laut.
Künftige Rolle der Bundeswehr im Rahmen der gemeinsamen Sicherheit und Verteidigung Europas
Der Vortrag des Generalinspekteurs der Bundeswehr gilt schon seit Jahren als unverzichtbarer Bestandteil und Höhepunkt des Berliner Colloquiums. Vor dem Hintergrund des in den Medien vermittelten Bild der Bundeswehr in den letzten Wochen und Monaten waren in diesem Jahr die Erwartungen der Teilnehmer an den letzten Teil der Veranstaltung besonders hoch. General Eberhard Zorn enttäuschte das Auditorium nicht. Im Gegenteil, seine engagierten und höchst authentischen Worte fanden eine ungeteilt positive Resonanz. Mit einer klaren Bewertung der potentiellen Bedrohung durch Angriffe aus dem Cyber- und Informationsraum, den Internationalen Terrorismus und das hybride Angriffs- und Raketen-Potential aus dem Osten, insbesondere aus Russland, leitete er seinen Vortrag ein. Seine sehr konkreten Aussagen u.a. zu den Einsätzen der Bundeswehr, zur Gesamtverteidigung, notwendigen Führungsstrukturen und –verfahren für die künftige Landes- und Bündnisverteidigung, zum Verteidigungsbeitrag Deutschlands für die NATO und die EU, zur Personal-, Material- und Ausbildungslage und nicht zuletzt zur Finanz- und Bundeswehrplanung erfüllten die Erwartungen der Zuhörer. Die anschließende, lebhaft geführte Diskussion musste wegen zahlreicher Fragen sogar zeitlich noch ausgedehnt werden.
Schlussworte
Der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Dr. Kamp, äußerte sich in seinen abschließenden Bemerkungen sehr zufrieden über die gerade zu Ende gegangene Tagung, die mittlerweile eine der festen Koordinaten in der sicherheitspolitischen Debatte in Berlin geworden sei.
In seinen abschließenden Dankesworten konnte der Präsident der Clausewitz-Gesellschaft, Generalleutnant a.D. Kurt Herrmann, trotz der immer noch höchst ungewissen Rahmenbedingungen und Perspektiven für die weitere Entwicklung in und um Europa, zumindest für den Verlauf des Berliner Colloquiums 2019 ein positives Resümee ziehen. Besonders erfreut zeigte er sich auch über die Teilnahme zahlreicher aktiver Soldatinnen und Soldaten in Uniform.
Als inhaltliches Fazit nannte er: Wenn wir in Europa unsere westliche Werteordnung und unser freiheitlich demokratisches und rechtsstaatliches Gesellschaftsmodell bewahren wollen, was wir unbedingt gewährleisten sollten, dann müssen wir nicht nur enger zusammenstehen, sondern auch die praktischen Fähigkeiten zur Gewährleistung von effizienter Außenpolitik, Sicherheitsvorsorge und Verteidigungsbereitschaft überzeugend, glaubwürdig und konkret mit den notwendigen Ressourcen unterfüttern.
KH