„Die doppelte Ambivalenz – Anmerkungen zur Geschichte der Bundeswehr 1955 – 2020“ – RK West am 07. 06. 2021

Prof. Dr. Soenke Neitzel

 

Das vor wenigen Monaten erschienene Buch Prof. Dr. Sönke Neitzels „Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte“ hat in Fachkreisen, aber auch in einer breiteren Öffentlichkeit einiges Aufsehen erregt und ist zum Bestseller avanciert. Die gelegentlich provokanten, aber stets gut begründeten Thesen des Autors haben teils großen Zuspruch erfahren, teils heftigen Widerspruch geerntet. Der RK WEST hatte das Privileg und Vergnügen, den Autor in einer Online-Veranstaltung mit einigen Anmerkungen zur Geschichte der Bundeswehr zu hören und mit ihm seine Thesen zu diskutieren.

2010 habe er – so führte Prof. Neitzel einleitend zur Genese seines neuesten Buches aus – gemeinsam mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer Abhörprotokolle von Wehrmachtssoldaten in amerikanischer und britischer Kriegsgefangenschaft ausgewertet und in dem Buch „Soldaten“ dargestellt, wie diese den Krieg und ihre eigene Rolle gesehen hätten. Zu jenem Zeitpunkt sei die Bundeswehr in Afghanistan in einem Einsatz gewesen, der gerade von einer einigermaßen friedlichen Stabilisierungsoperation zu einem gefährlichen Kampfeinsatz mutiert war. Ihn habe damals gereizt, einmal genauer zu untersuchen, wo es, bei aller Unterschiedlichkeit der beiden Institutionen, vielleicht auch Verbindungslinien zur Wehrmacht gebe – im Handwerklichen, im Selbstverständnis der Soldaten und in deren Stellung in der Gesellschaft. Dabei habe er durchaus die eine oder andere Parallele erkennen können.

Kern der Fragestellung sei gewesen, wie das Militär seit dem Kaiserreich den Krieg gedacht und geführt habe – natürlich beeinflusst durch den jeweiligen gesellschaftspolitischen Rahmen. Aus vielerlei Gründen habe er sich auf die Landstreitkräfte und dort auf die Kampftruppe fokussiert. In seinen Ausführungen im RK WEST werde er sich auf die Betrachtung der Bundeswehr beschränken.

Die Bundeswehr sei zwar zu Beginn vor allem ein außenpolitisches Projekt gewesen, das Adenauer genutzt habe, um über den deutschen Wehrbeitrag die volle Souveränität der Bundesrepublik zu erreichen. Zugleich sei sie aber auch als ein innenpolitisches Projekt betrachtet worden. Denn die verbreitete Skepsis gegen eine Wiederbewaffnung und Aufstellung von Streitkräften habe eine besondere Rücksichtnahme auf die gesellschaftlichen Befindlichkeiten erfordert. Das Militär einzuhegen sei ein prägendes Element gewesen, obwohl der Primat der Politik im 20. Jahrhundert eigentlich selten in Frage gestanden habe, am allerwenigsten im Dritten Reich.

Mit dem Konzept der Inneren Führung und dem Begriff des „Staatsbürgers in Uniform“ sei ein allgemein akzeptierter Rahmen geschaffen worden, dessen Ausfüllung aber umstritten geblieben sei. Dies habe sich u.a. in der Kontroverse zwischen den Generalen Karst und Baudissin, später bei der Schnez-Studie, den Leutnanten 70 und den Hauptleuten von Unna gezeigt. Letztlich sei immer die entscheidende Frage gewesen, ob man die Bundeswehr eher vom Frieden oder vom Krieg her denken solle und wie man diese Prinzipien jeweils gewichte.
In der Traditionsfrage habe der Widerstand gegen Hitler im Vordergrund gestanden. Im Übrigen habe man ein Narrativ mit einer klaren Trennung von Wehrmacht und Nationalsozialismus gepflegt, auch um sich mit den Millionen Veteranen kein dauerhaftes Unruhepotenzial zu schaffen. Beim Aufbau der Bundeswehr habe man ohnehin nicht auf die Expertise der ehemaligen Wehrmachtssoldaten verzichten können.

Die Antwort auf die oftmals kontrovers diskutierte Frage, inwieweit oder ob die Wehrmacht überhaupt traditionsbildend sein könne, hat sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte stark verändert. Nicht zuletzt die Erkenntnis, dass die Wehrmacht stärker an Kriegsverbrechen beteiligt war als anfangs wahrgenommen, hatte dazu geführt, dass sie in den 1990er Jahren mangels gesellschaftlicher Akzeptanz quasi aus der Tradition der Bundeswehr eliminiert gewesen sei.

Auf der handwerklichen Ebene hatte die Bundeswehr zwar einerseits viele Einflüsse vor allem aus der amerikanischen Militärkultur übernommen; aber es gab andererseits auch weiterhin Anknüpfungspunkte an die Wehrmacht, insbesondere wenn es um die Gestaltung einer „kriegsnahen Ausbildung“ ging. Insgesamt habe die Bundeswehr im Laufe der Jahrzehnte eine militärische Qualität entwickelt, die hohe Anerkennung im Bündnis gefunden habe. Die Debatte um die innere Verfasstheit sei in den 1980er Jahren abgeflaut. Verstärkt worden sei diese Tendenz durch die veränderten Einsatzszenarien nach der sicherheitspolitischen Wende. Die Landes- und Bündnisverteidigung verschwand aus dem Bewusstsein, und für den „Peacekeeper“ gab es wenig Anknüpfungspunkte zur Wehrmacht. Auf diese Weise seien sich zu Beginn des Afghanistaneinsatzes Bundeswehr und Gesellschaft so nah gewesen wie selten. Die Ambivalenz habe sich aufgelöst.

Als sich jedoch in Afghanistan um 2008 herum herausstellte, dass die Einsatztruppe tatsächlich kämpfen musste, was die Politik lange nicht wahrhaben wollte, habe dadurch bei den beteiligten Soldaten die alte Frage nach dem angemessenen Referenzpunkt für ihr Selbstverständnis wieder im Raum gestanden. Mangels nachvollziehbarer Vorgaben für kämpferische Identitäten durch die Führung seien auf unterer Ebene auch wieder Wehrmachtsbezüge aufgekommen. Aus einem letztlich nicht zu erfüllenden Auftrag habe die Bundeswehr zwar das Beste gemacht; aber die Strategielosigkeit und die Schere zwischen Auftrag und Mitteln hätten zu massiven Vertrauensverlusten zwischen Truppe und militärischer und politischer Führung geführt.

Mit der erneuten sicherheitspolitischen Wende 2014 und durch das Wiederaufleben der Landes- und Bündnisverteidigung sei die alte Frage, ob die Mentalität von Streitkräften eher vom Kampfeinsatz oder vom Frieden her zu bestimmen sei, noch drängender geworden. Sie sei nicht zu lösen, wenn Politik und Gesellschaft nicht ehrlich erklärten, was man mit der Bundeswehr eigentlich wolle. Solle sie eine kampfbereite und interventionsfähige Truppe sein oder lediglich eine Karte auf dem Spieltisch der Außenpolitik? Wer eine einsatzbereite Truppe wolle, müsse dann auch Verständnis für die Erfordernisse und die Kultur von Kampftruppen aufbringen. Dafür – so Prof. Dr. Neitzel – habe er mit seinem Buch einen Beitrag leisten wollen.

In einer intensiven Aussprache wurde das vielschichtige Verhältnis von Gesellschaft, Politik und Streitkräften unter verschiedenen Aspekten noch einmal aufgegriffen. Die Frage, wie die inhärenten Bedürfnisse der Truppe, insbesondere der Kampftruppe, der Politik und in der Gesellschaft besser vermittelt werden könnten, spielte dabei eine besondere Rolle. Ein Königsweg dazu schälte sich zwar nicht heraus, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass dies ein ständiges Bemühen sein müsse. Für die Beteiligung an einem solchen Diskurs hat der Vortragsabend nach dem Bekunden etlicher Teilnehmer sehr gute Argumente geliefert. Deren Nachbereitung und Vertiefung ist in diesem Fall einfach; denn sie liegen in Form eines äußerst lesenswerten Buches vor, das noch deutlich über die hier behandelte Thematik hinausgreift.

Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.