Eine politische und militärische Analyse der Aggression Russlands gegen die Ukraine – RK WEST am 30.01.2023
Nachdem sich der RK WEST im gesamten Jahr 2022 unter unterschiedlichen Aspekten mit der Aggression Russlands gegen die Ukraine befasst hatte, schien es ein knappes Jahr nach dem Beginn des Krieges an der Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Der Referent des Abends, General a.D. Egon Ramms, hatte sich nicht zuletzt in seiner Zeit als Kommandierender General des NATO-Korps Nordost und in der anschließenden Verwendung als Commander-in-Chief des Allied Joint Forces Command Brunssum intensiv mit den geopolitischen Gegebenheiten und der militärischen Lage Osteuropas befasst. Er ist zu diesem Thema auch in den Medien ein viel gefragter Experte. An dieser Veranstaltung im vollbesetzten Moltke-Saal auf der Hardthöhe waren auch das Bonner Forum der Deutschen Atlantischen Gesellschaft und die Sektion Köln-Bonn der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik beteiligt.
Einführend stellte General Ramms das Land Ukraine mit seinen geographischen Gegebenheiten und der Zusammensetzung seiner Bevölkerung vor. Die Ukraine ist – von Russland abgesehen – das flächenmäßig größte Land Europas mit Grenzen zu acht Nachbarstaaten und einer Bevölkerung von inzwischen vermutlich etwa 40 Millionen Einwohnern mit abnehmender Tendenz. Ethnisch sind davon etwa 77 % Ukrainer und 16 % Russen, wobei auch im Donbass der russische Bevölkerungsanteil in der Minderheit ist – oder zumindest bis zur russischen Intervention 2014 war. Der Referent beleuchtete stichwortartig die jüngere Geschichte der Ukraine als unabhängiger Staat nach dem Zerfall der Sowjetunion, bevor er sich dem russischen Aufmarsch zu dem am 24. Februar 2022 begonnenen Angriffskrieg zuwandte.
Bereits Anfang Oktober 2021 hatte Russland Kräfte im Umfang von ca. 87.000 Soldaten gegenüber der ukrainischen Grenze – auch unter Nutzung Weißrusslands als Aufmarschgebiet – sowie auf der Krim konzentriert. Bis Dezember wuchsen diese Kräfte auf ca. 175.000 Soldaten auf, wobei ihre Zusammensetzung eindeutig offensive Absichten erkennen ließ. Allerdings hätte der beträchtliche und kontinuierliche Aufwuchs der russischen Kräfte auf der Krim seit deren Annexion 2014 eigentlich schon sehr viel früher als Warnsignal für Putins Bereitschaft gedeutet werden müssen, seine imperialistischen Ziele gegenüber der Ukraine auch mit Waffengewalt zu verfolgen.
Die Angriffsplanungen lassen sich aus den Anfangsoperationen der russischen Streitkräfte unschwer erschließen. Sie sahen bekanntlich sowohl die Einnahme Kiews von Norden und Nordosten sowie den Vorstoß nach Westen bis zum Dnipro vor, im Süden darüber hinaus bis Odessa. Die sog. Spezialoperation hatte die strategischen Ziele:
- Sturz bzw. Entmachtung der ukrainischen Regierung,
- die Anerkennung der Annexion der Krim sowie der „Volksrepubliken Donezk und Luhansk“ durch die Ukraine,
- die vollständige Entmilitarisierung der ukrainischen Streitkräfte,
- die verbindliche Erklärung, dass die Ukraine keine NATO-Mitgliedschaft anstrebt, sowie
- die Einsetzung einer „russlandfreundlichen“ Regierung.
Dabei ging man davon aus, diese Ziele nach dem Beginn des Angriffs am 24. Februar 2022 binnen weniger Tage erreichen zu können.
Die russischen Geländegewinne der ersten Tage waren im Norden beim Stoß auf Kiew und im Süden besonders groß, weil die ukrainischen Streitkräfte den Schwerpunkt im Osten vermutet hatten und daher auf diese Vorstöße nur unzureichend vorbereitet waren. Der Referent zeigte sodann anhand von Lagekarten die Entwicklungen auf dem Gefechtsfeld in Monatsschritten auf. Die nach den anfänglichen Gebietsverlusten sehr erfolgreichen Verteidigungsoperationen der ukrainischen Streitkräfte mit teilweise exorbitant hohen Verlusten auf der russischen Seite seien nicht zuletzt auf ausgezeichnete Aufklärungsergebnisse aus sehr unterschiedlichen Quellen zurückzuführen.
Bis zum Sommer war das Geschehen durch heftige Kämpfe im Osten und Süden der Ukraine geprägt – mit geringen Geländegewinnen, aber außerordentlich heftigem Artilleriefeuer von russischer Seite mit bis zu 80.000 verschossenen Granaten pro Tag. Dabei konnten die russischen Streitkräfte auf riesige Lagerbestände an teilweise auch älterer Munition zurückgreifen, während die Ukraine nur über begrenzte Bestände verfügte und auf die Unterstützung durch den Westen zwingend angewiesen war und ist. Aber auch russische Angriffe mit Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen in die Tiefe der Ukraine waren nahezu täglich zu verzeichnen. Dass die Ukraine ihrerseits – wenngleich nur punktuell – fähig war, wichtige militärische Ziele auf der Krim anzugreifen, zeigte sich bei dem erfolgreichen Angriff auf den Flugplatz Saki am 9. August 2022. In den durch Russland besetzten Gebieten im Süden hatten sich im Übrigen offensichtlich Partisanenbewegungen entwickelt, über die in den Medien wenig berichtet wird.
Im Spätsommer und im Herbst konnten die ukrainischen Streitkräfte mit Gegenangriffen sowohl im Raum Charkiw als auch im Süden bei Cherson erhebliche Gebiete zurückerobern. Neben den westlichen Waffenlieferungen sind diese Erfolge aber vor allem auf die den Russen überlegene Kampfmoral der Ukrainer zurückzuführen. Das Momentum dieser Erfolge konnte aber mangels Masse an Waffen, Gerät und Munition nicht aufrechterhalten werden, so dass der Krieg in Abnutzungsgefechten erstarrte, die vor allem im Donbass mit hoher Intensität geführt werden.
Zu den Lieferungen westlicher Waffensysteme bezog General Ramms eine klare Position. Das Argument, es sei militärisch unzweckmäßig, die ukrainischen Streitkräfte mit modernen westlichen Waffensystemen auszustatten, weil die Ausbildung daran zu lange dauere, um sie rechtzeitig auf dem Gefechtsfeld zur Wirkung zu bringen, sei ein inzwischen eindeutig widerlegter Vorwand. Das zeige u.a. das Beispiel des komplexen Flugabwehrsystems Gepard, das die Ukrainer nach erstaunlich kurzer Zeit mit großem Erfolg eingesetzt hätten. Anderseits müsse man berücksichtigen, dass zwischen der Zusage eines Waffensystems und dessen Wirksamkeit auf dem Gefechtsfeld mehrere Wochen, wenn nicht Monate vergingen. Denn das Gerät müsse vorbereitet, entsprechende Munitions- und Ersatzteilpakete bereitgestellt und das Bedien- und Instandsetzungspersonal zunächst ausgebildet werden.
Inwieweit die russische Rüstungsindustrie in der Lage sei, die immensen Verluste an gepanzerten Fahrzeugen zu ersetzen, sei von außen nicht abschließend zu beurteilen. Das Fehlen wichtiger elektronischer Baugruppen durch die Wirtschaftssanktionen behindere die Produktion neuer Panzer oder die Aufrüstung älterer Modelle ohne Zweifel signifikant. Es sei auch eher zweifelhaft, ob der hochgelobte Armata-Kampfpanzer in der Ukraine zum Einsatz kommen werde, da dessen operative Einsatzfähigkeit zweifelhaft sei.
In Zusammenhang mit der Rückgewinnung von Cherson durch die Ukraine wies General Ramms darauf hin, dass es neben den bereits hinlänglich bekannten Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung und durch die täglichen Raketenangriffe auf die kritische zivile Infrastruktur weitere gebe, die in den Medien kaum thematisiert würden. Inzwischen seien mehr als 2 Millionen Menschen aus den besetzten Gebieten der Ukraine nach Russland deportiert worden, darunter mehr als 20.000 Kinder. Dies fügt sich in das russische Narrativ, die Ukraine „heim ins russische Reich“ zu holen.
Zur Zeit liegt der Schwerpunkt der Kämpfe bekanntlich im Donbass. In Zusammenhang mit den schweren Kämpfen um Soledar und Bachmut beleuchtete der Referent die Rolle und besonders brutale Vorgehensweise der Söldnergruppe Wagner, die in diesem Bereich als Rückgrat in die reguläre Truppe eingezogen sei und ohne jegliche Rücksicht auf eigene Verluste eingesetzt werde.
Was die Unterstützung der Ukraine anbetrifft, machte General Ramms in aller Deutlichkeit klar, dass in der Ukraine seit Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 jeden Tag die Freiheit, die Werte und die Rechtsstaatlichkeit der demokratischen Staaten Europas von ukrainischen Soldaten und ukrainischen Bürgern verteidigt würden. Daher sei es zwingend erforderlich, die Ukraine so zu unterstützen, dass sie in diesem Konflikt obsiege. Ein anderer Ausgang würde die Spannungen in Europa nicht beenden, sondern auf lange Zeit perpetuieren. Insofern sei ihm die lange währende und quälende Diskussion über die Lieferung von Schützen- und Kampfpanzern unverständlich. Eine frühere Lieferfreigabe z.B. von ausgemusterten SPz Marder und KPz Leopard 1, die noch in signifikanter Zahl bei der Rüstungsindustrie verfügbar sind, hätte die Gegenoffensiven der ukrainischen Streitkräfte im Herbst des vergangenen Jahres entscheidend beflügeln können. Darüber hinaus hätte sie auch den Druck gemildert, modernste KPz zu liefern, die auch in der Bundeswehr nur schwer entbehrlich sind. In jedem Fall müsse die Ukraine weiterhin nach besten Kräften unterstützt werden. Dabei solle man keine Mittel von vornherein ausschließen.
General Ramms schloss seinen Vortrag mit einem Zitat von Paul Taylor 2017 aus einer Studie der Friends of Europe ab: „Für Deutschland besteht die Herausforderung darin, über den Schatten seiner Vergangenheit zu springen, eine echte strategische Kultur zu entwickeln, eine aussagekräftigere Außenpolitik zu betreiben und brauchbarere Streitkräfte aufzubauen, die mit entsprechender Ausbildung und Ausrüstung bei Bedarf schnell einsetzbar sind.“
In der ausführlichen Aussprache wurde thematisch ein breites Spektrum abgedeckt. Fragen nach den personellen und materiellen Verlusten beider Seiten und nach der Durchhaltefähigkeit der Ukraine spielten darin eine prominente Rolle. Auch Überlegungen, wie man die Produktion von Rüstungsgütern beschleunigen und der dramatischen Lage anpassen könne, zielten in diese Richtung. Daneben interessierte die Ausbildung ukrainischer Soldaten in NATO-Staaten, insbesondere in Deutschland. Auch die bisher erstaunlich geringe Rolle der russischen Luftstreitkräfte in dem Konflikt wurde thematisiert. Die Frage, wie der Krieg weitergehen werde, wie er beendet werden könne und was am Ende als Ergebnis stehen könne, ließ sich naturgemäß nur schwer beantworten.
Dem abschließenden Beifall für den Referenten war zu entnehmen, dass sich die Teilnehmer der Veranstaltung durch diese stringente und sehr anschaulich vorgetragene Zwischenbilanz der russischen Aggression gegen die Ukraine ein knappes Jahr nach Kriegsbeginn nicht nur ausgezeichnet informiert fühlten, sondern auch die in Klartext vorgetragenen Bewertungen sehr weitgehend teilten.
In der Begrüßung für diese Veranstaltung hatte der Verfasser des wenige Tage zuvor verstorbenen langjährigen Ehrenpräsidenten der Clausewitz-Gesellschaft, General a.D. Wolfgang Altenburg, gedacht. Ein ausführlicher Nachruf befindet sich auf dieser Website.
Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.