“Finnlands Weg in die NATO”– RK Nord am 23.01.2024
Am 23. Januar 2024 fand in Hamburg die erste Veranstaltung des Regionalkreises Nord der Clausewitz-Gesellschaft e.V. dieses Jahres statt. Kapitän zur See Misa Kangaste, der Verteidigungsattaché der Botschaft von Finnland in Deutschland, trug zum Thema vor:
“Finnlands Weg in die NATO”
Kapitän zur See Kangaste, Jahrgang 1970, trat 1989 in die finnischen Streitkräfte ein, wo er zuerst Wehrdienst in der Marineinfanterie leistete und anschließend zum Seeoffizier ausgebildet wurde. 2002 absolvierte er die finnische Generalstabsausbildung. Es folgten Stabsverwendungen u.a. im finnischen Verteidigungsministerium und bei der OSZE, bevor er 2014 Kommandeur des 5. Minengeschwaders und anschließend Kommandeur der Marine-Spezialkräfte wurde. Seit 2021 ist er der Verteidigungsattaché Finnlands in Deutschland und den Niederlanden. Vor nahezu vollbesetztem Saal mit erfreulich vielen Gästen aus der FüAkBw schilderte er Finnlands Weg in die NATO:
Seit 1944 war Finnland neutral und gehörte keinem Militärbündnis an. Dabei basierte die finnische Außen- und Sicherheitspolitik auf 4 Säulen:
- Nationale Verteidigungsfähigkeit
- Westorientierung bis hin zur Mitgliedschaft in der EU
- Regelbasierte Völkerrechtsordnung
- Verläßliche Beziehungen zu Russland, vordem zur UdSSR.
Wird eine Säule schwächer, müßen die anderen gestärkt werden. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine blieben von diesen vier Säulen aber nur noch zwei übrig: die nationale Verteidigungsfähigkeit und die guten Beziehungen zum Westen. Russlands Angriff auf die Ukraine zwang Finnland somit, seine Position als militärisch bündnisfreier Staat an der Grenze zu Russland neu zu bewerten. Daher stellte Finnland den Antrag, in die NATO aufgenommen zu werden. Dieser Antrag wurde von ca. 80% der finnischen Wahlberechtigten befürwortet. Die Aufnahme in die NATO erfolgte am 4. April 2023.
Aufgrund seiner Geschichte und seiner geostrategischen Lage hat Finnland seine Verteidigung immer ernst genommen. Der Hauptzweck der finnischen Verteidigung war dabei die Abschreckung vor jeglicher Anwendung militärischer Gewalt. Zudem ist die territoriale Integrität der baltischen Staaten für Finnland ebenso wichtig wie die Freiheit der Handels- und Schifffahrtswege in der Ostsee. Sein Interessensgebiet umfaßt Murmansk, die Barentsee und reicht bis in die Arktis.
Herausforderungen sind u.a., daß Finnland keine durchgehend eisfreien Häfen besitzt und daß das finnische Eisenbahnnetz über eine andere Spurbreite als die der NATO-Partner verfügt.
Finnland besitzt eine glaubwürdige nationale Verteidigung. Sie ergibt sich aus der allgemeinen Wehrpflicht, aus einer gut ausgebildeten Reserve, aus der Entschlossenheit der finnischen Bevölkerung, ihren Staat zu verteidigen, einer umfassenden modernen Ausstattung seiner Land-, Luft- und Seestreitkräfte sowie aus einer engen Verteidigungszusammenarbeit mit anderen Staaten.
Aus deutscher Sicht bemerkenswert: Finnland hat seine Wehrpflicht nach dem Ende des kalten Krieges nie abgeschafft. Jedes Jahr leisten ca. 22.0000 Finnen ihren Wehrdienst (Dauer 6 – 12 Monate); nur knapp 2% der finnischen Wehrpflichtigen verweigern und leisten Ersatzdienst. Für finnische Frauen gibt es keine Wehrpflicht; dennoch leisten mehr als 2.000 Frauen freiwillig Dienst in den Streitkräften, Tendenz steigend. Nach dem Wehrdienst sorgen regelmäßige Wehrübungen für den Erhalt eines zeitgemäßen Ausbildungsstandes und der ständigen Einsatzbereitschaft.
Die finnischen Streitkräfte umfassen im Frieden etwa 24.000 Soldaten. Nach Mobilmachung kann Finnland in kürzester Zeit 280.000 Soldaten voll ausgebildet und vollständig modern ausgestattet bereitstellen. Insgesamt könnte auf ein Gesamtpotential von mehr als 700.000 Reservisten zurückgegriffen werden – bei einer Gesamtbevölkerung von 5.5 Millionen Finnen!
Finnland gibt seit langem mehr als 2% des BIP für Verteidigung aus. Dabei wird die Hälfte der Verteidigungsausgaben in die Beschaffung moderner Rüstungsgüter investiert. Beispielsweise beschafft Finnland derzeit 64 F-35.
Bemerkenswert ist auch, daß Finnland seit vielen Jahrzehnten das Konzept der Gesamtverteidigung verfolgt, das 2017 zur “Sicherheitsstrategie für die Gesellschaft” weiterentwickelt wurde. Im Zentrum steht die Sicherung von sieben überlebenswichtigen gesellschaftlichen „Vitalfunktionen“: Kontinuität der Führung von Regierung und Verwaltung, internationale und EU-Aktivitäten, Verteidigungsfähigkeit, innere Sicherheit, Wirtschaft, Infrastruktur und Versorgungssicherheit, Funktionsfähigkeit von Bevölkerung und grundlegenden Dienstleistungen, sowie psychologische Resilienz. Diese “Vitalfunktionen” werden durch die Zusammenarbeit von Behörden, Wirtschaft und Zivilgesellschaft gewährleistet. Für den Bereich “Psychologische Resilienz” ist beispielsweise das Erziehungsministerium verantwortlich. Ein “Sicherheitskomitee” als ständiges Gremium trifft sich einmal im Monat, ist für die Gesamtsicherheitsstrategie verantwortlich und verbindet alle Akteure.
KzS Kangaste schloss mit dem Hinweis, daß mit dem Beitritt zur NATO die Ära der militärischen Bündnisfreiheit zu Ende ging. Die NATO-Mitgliedschaft stärkt die internationalen Positionen Finnlands und seinen Handlungsspielraum. Als Partner hat sich Finnland bereits seit langem an Aktivitäten der NATO beteiligt; als Mitglied der Allianz wird Finnland seinen Beitrag zur kollektiven Abschreckung und Verteidigung leisten.
Die Mitgliedschaft Finnlands richtet sich nicht gegen irgendjemand und ändert auch nichts an den Grundlagen und Zielen der finnischen Außen- und Sicherheitspolitik, aber sie stärkt die regionale Stabilität.
Kein Wunder, daß diese höchst eindrucksvolle Darstellung von Finnlands Beitrag in der NATO, von KzS Kangaste lebendig und überzeugend vorgetragen, genügend Stoff für eine lange und lebhafte Diskussion bot. Dabei wich KzS Kangaste keiner Frage aus. Nach der ausführlichen Diskussion endete der offizielle Teil des Abends mit dem gemeinsamen Abendessen vom Buffet und klang anschließend in langen Gesprächen in lockerer Runde aus.
Dr. Hans-Peter Diller
Oberstarzt a.D. und Leiter Regionalkreis Nord
Bilder: Quelle StBtsm d.R. Tiburski, Clausewitz-Gesellschaft e.V.