„Fixing Broken Windows – Irak am Scheideweg!? Ein Jahr in Bagdad als‚Director Training Development Division‘ (TDD) im Rahmen derNATO – Mission IRAQ (NMI) – eine kritische Bilanz“ – RK Nord am 15. 10.2024
Am 15. Oktober 2024 konnte sich der Regionalkreis Nord über die ‚NATO-Mission Iraq (NMI)‘ und die Aufgaben eines ‚Director Training Development Division (TDD)‘ informieren. Brigadegeneral Stephan Willer, seit August 2024 Kommandeur der Offizierschule des Heeres (OSH) in Dresden, trug vor über seine einjährige Tätigkeit in Bagdad von 2023 bis 2024.
Seit der Zeitenwende hat die Wieder-Ausrichtung der Bundeswehr auf Landes- und Bündnisverteidigung naturgemäß oberste Priorität. Aber daneben ist die Bundeswehr noch immer an ausgewählten NATO-Missionen beteiligt, so wie der im Irak (NMI). Diese NATO-Ausbildungsmission besteht seit 2018, um den Fähigkeitsaufbau der irakischen Streitkräfte zu unterstützen, somit ein Wiedererstarken der Terrororganisation „Islamischer Staat“ zu verhindern und zur Stabilisierung des Iraks beizutragen. Sie wirkt dabei sowohl als Berater der Führung der irakischen Streitkräfte in Fragen der Organisation und Führung als auch als Unterstützer der Offizier- wie Unteroffizierausbildung v.a. an Truppenschulen. NMI kann dabei auf der Arbeit von Vorgängermissionen seit 2004 aufbauen. Sie umfasst insgesamt nur etwa 650 Soldaten, vorrangig im Großraum Bagdad.
Diese relativ kleine NATO-Mission arbeitet in einem multiethnischen und religiös zwischen Schiiten und Sunniten tief gespaltenen Land mit ca. 43 Millionen Einwohnern, das seit 1980 nahezu permanent blutigste Kriege und Bürgerkriege geführt hat. Nach etwa 50 Jahren extrem repressiver Diktatur erlebt das Land zum ersten Mal ein zumindest ansatzweise funktionierendes demokratisches System. Der derzeitige Premierminister ist seit rund zwei Jahren im Amt. Dysfunktionale Verwaltung, Klientelpolitik und Korruption behindern den Aufbau eines tragfähigen politischen und wirtschaftlich erfolgreicheren Staatsapparates, der sich zudem im Spannungsfeld der unterschiedlichsten regionalen wie globalen Akteuren befindet. All das führt zu latenter Unzufriedenheit und anhaltenden Spannungen in der heterogenen Bevölkerung, die sich immer wieder eruptiv in Protestaktionen entladen können.
Den Zuhörern wurde rasch klar, dass NMI alles andere umfasst als nur „Fixing Broken Windows“. Die irakischen Streitkräfte wurden ab 2003 völlig neu aufgestellt, besitzen eine übergroße Anzahl von Generalen und eine strikt hierarchische Binnenstruktur, werden nach Befehlstaktik geführt und befinden sich noch mitten in der Ausbildungsphase. Dabei treten v.a. die Offiziere selbstbewusst und gelegentlich auch fordernd auf; Ebenengerechtigkeit und Anerkennung sind für sie eminent wichtig.
NMI wird von einem Drei-Sterne-General geführt, dem 3 funktionale Abteilungen unterstehen. Deren größte (und einflussreichste) berät das Verteidigungsministerium unmittelbar; die ‚Training Development Division (TDD)‘ berät und unterstützt beim Aufbau von Truppenschulen und Ausbildungszentren, vorrangig des Heeres und im Großraum Bagdad. Der Vortragende schilderte sowohl seine tägliche Arbeit als auch die seines Teams in der TDD. Neben der Beratung gilt als Grundsatz „train the trainers“; Ziel ist es, dass Iraker irakische Truppen selber ausbilden können und dass langfristig ein Zusammenwirken mit NATO-Partnern möglich wird. Besonders deutlich wurde die Bedeutung von Sprachmittlern in der Ausbildung. Insgesamt erlebte der Vortragende die Auszubildenden als lernfähig und ausgeprägt lernwillig.
Während im Bereich der NMI Fortschritte erkennbar sind, bleibt der Irak auf anderen Gebieten weit zurück: Die wirtschaftliche Entwicklung, Bildung, Rechtssicherheit und Korruptionsbekämpfung stellen unverändert große Herausforderungen dar. Die Beziehungen zur autonomen Kurdenregion um Mossul bleiben angespannt.
Dennoch bewertete BG Willer diese NATO – Mission insgesamt positiv.
In der sich anschließenden Diskussion wurde vor allem die Frage gestellt: Lohnt sich das deutsche Engagement im Rahmen von NMI?
Derzeit findet sich der Irak inmitten einer strategisch wichtigen geopolitischen Krisenregion, im Spannungsfeld zwischen Iran, Israel, Syrien, Libanon und Türkei. Es bleibt auf externe Unterstützung angewiesen, wenn es seinen außenpolitischen Spielraum bewahren will.
Europa und Deutschland müssen angesichts dieser Lage prüfen, ob sie ihr Engagement – neben der Beteiligung an der NMI – durch bi-/multilaterale Initiativen verstärken oder abbauen wollen. Deutschland wird sich entscheiden müssen, sein Engagement in der NMI entweder zu verstärken – nicht zwingend zahlenmäßig, aber v.a. im Bereich von Schlüssel- und Spitzen-Dienstposten – oder künftig den Fokus auf konkrete bilaterale Kooperationen, wie bspw. Wissenstransfer in den Bereichen Taktik einschl. Simulation („Gefecht der verbundenen Waffen“) und Personalmanagement (u.a. Personalwirtschaftssystem, Beurteilungen, Personalauswahl) zu legen. Eine Reduzierung des Einsatzes, um Kräfte für die Aufgabe der LV/BV zu generieren, sollte nicht erwogen werden. Dies würde der aktuellen Bedeutung des Iraks und des geografischen „Footprints“ in dieser kritischen Region kaum gerecht werden, so das Fazit der Mehrheit der Zuhörer.
Der Vortrag war lebendig, anschaulich und anspruchsvoll. Nicht zuletzt die zahlreichen englischen Abkürzungen, auch auf den zur Visualisierung genutzten Folien, waren durchaus sehr anspruchsvoll. Ungeachtet dessen war die Resonanz auf Vortrag und Diskussion ausgesprochen positiv.
Besonders erfreulich war die Teilnahme aktiver Stabsoffiziere, die gut 20% der Zuhörerschaft im wohlgefüllten Saal stellten, darunter sowohl Dozenten wie Lehrgangsteilnehmende der Führungsakademie der Bundeswehr.
Nach der Diskussion klang die Veranstaltung wie üblich nach einem gemeinsamen Abendessen vom Büffet und Einzelgesprächen in lockerer Runde aus.
Dr. Hans-Peter Diller
Oberstarzt a.D. und Leiter Regionalkreis Nord
Bilder: Quellen SB d.R. Tiburski, Clausewitz-Gesellschaft e.V.; BG Willer, OSH