“Forderungen nach einer Europäischen Armee – mehr als politische Rhetorik?” – RK West am 23. 11. 2020
In der Politik ertönt aus vielen politischen Lagern seit Jahren der Ruf nach einer Europaarmee. Die Motive dafür sind unterschiedlich. Die einen meinen, eine gemeinsame Armee könne der Motor einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sein, die anderen glauben, sie ermögliche eine effizientere Verwendung der Aufwendungen für Verteidigung und mache deren Erhöhung, z.B. im Sinne des 2%-Ziels der NATO, überflüssig. Und einige empfänden es auch als durchaus angenehm, sich national nicht mehr mit einem wenig geliebten und nicht besonders attraktiven Feld der Politik befassen zu müssen.
Oft bleibt dabei unklar, was die jeweiligen Protagonisten unter dem Begriff „Europaarmee“ verstehen und welche Voraussetzungen erforderlich sind, um das entsprechende Konstrukt zu realisieren. Auch über den angestrebten Zeithorizont gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen. Manche scheinen zu glauben, man könne unmittelbar mit ersten Schritten beginnen oder habe damit bereits begonnen; andere sehen es eher als Vision für eine nicht näher definierte Zukunft.
Es erschien uns geboten, diesen Wirrwarr ein wenig zu entflechten und die Optionen für eine Europäische Armee sowie deren jeweilige Realisierbarkeit in unserem Regionalkreis systematischer zu betrachten, als das gemeinhin geschieht. Dazu trug der Politikwissenschaftler Generalleutnant a.D. Dr. Ulf von Krause vor, der sich in seinem bei Springer VS erschienenen Essential „Die Bundeswehr als Teil einer Europäischen Armee – Realistische Perspektive oder unrealistische Vision“ mit genau dieser Fragestellung befasst hatte. Der ursprünglich bereits für Anfang April 2020 geplante und wegen der Corona-Beschränkungen ausgefallene Vortrag wurde nun als erstmalig im RK WEST als reine Online-Veranstaltung durchgeführt.
Generalleutnant a.D. Dr. von Krause leitete seine Ausführungen mit einer Sammlung von Politiker-Zitaten zum Thema ein, die bis auf wenige Aussagen die generelle Forderung nach einer schnellen Verwirklichung einer Europäischen Armee beinhalteten. In den meisten Fällen blieb dabei unklar, was konkret mit diesem Begriff gemeint war. Eine klare Aussage traf dagegen Frans Timmermans, der Spitzenkandidat der Sozialdemokratischen Partei Europas. Im Gegensatz zum Wahlprogramm der deutschen SPD für die Europawahl 2019 stellte er lapidar fest, eine EU-Armee werde es auf absehbare Zeit nicht geben.
Der Referent stellte sodann das Rational für eine militärische Zusammenarbeit in Europa dar. Während Anfang der 50er Jahre das Ziel einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) vor allem in der Einhegung deutscher Streitkräfte gesehen werden konnte, gehe es heute darum, die sicherheitspolitische Zusammenarbeit in Europa zu vertiefen, die Effizienz der Verteidigung zu erhöhen und die Interoperabilität der Streitkräfte zu verbessern.
An vielen Beispielen zeigte Dr. von Krause auf, dass der Bedarf für einen solchen Ansatz unzweifelhaft gegeben ist. Nach einer Studie von 2013 erreiche Europa mit 50 % der Verteidigungsaufwendungen der USA lediglich 10 % des Fähigkeitsniveaus der USA. Die Gründe dafür seien in mangelhafter Abstimmung zwischen den europäischen Partnern, teilweise in einer Duplizierung „alter“ Fähigkeiten bei gleichzeitigen Defiziten in modernen Schlüsselfähigkeiten zu suchen. Zu der Frage, wie eine Verbesserung der europäischen militärischen Fähigkeiten erreicht werden könne, gebe es sehr unterschiedliche Modelle und Auffassungen hinsichtlich deren Realisierbarkeit.
Dazu stellte Dr. von Krause fest: Eine Europäische Armee/EU-Armee, bei der alle nationalen Armeen in toto oder zumindest teilweise in ein vergemeinschaftetes europäisches Armeekontingent eingebracht werden, das der Entscheidungskompetenz und der Führung durch EU-Organe untersteht, entspricht nicht den europäischen Verträgen und ist derzeit nicht zu realisieren.
Voraussetzung dafür sei nämlich ein gemeinsames Verständnis der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, eine gemeinsame Rüstung, eine harmonisierte „Militärkultur“ und ein harmonisiertes Recht, insbesondere mit Blick auf nationale Regelungen für Einsatzentscheidungen. Parlamentsvorbehalte z.B. seien mit diesem Modell nicht vereinbar. Der Referent führte dann im Einzelnen aus, dass es in allen genannten Bereichen derzeit so gravierende Unterschiede gibt, dass sich gemeinsame Positionen kaum in überschaubarer Zeit entwickeln ließen. Das Modell setze quasi einen europäischen Bundesstaat voraus.
Dr. von Krause beleuchtete sodann die Frage, ob eine 28. EU-Armee, wie von der AG Verteidigung der SPD vorgeschlagen, ein Ausweg aus der beschriebenen „Souveränitätsfalle“ sein könne. Sie würde nicht von nationalen Soldaten, sondern von „EU-Soldaten“ gebildet und könne aus einem zunächst sehr begrenztem Umfang bis auf ca. 8.000 Soldaten aufwachsen. Sie unterstünde der EU-Kommission, während die parlamentarische Kontrolle durch das EU-Parlament erfolgen solle. Einsatzentscheidungen würden nach diesem Modell auf Antrag der Kommission durch den neu zu bildenden Verteidigungsausschuss des EU-Parlaments mit einfacher Mehrheit getroffen. Auch dieses Modell erfordere jedoch so massive Änderungen der Vertrags- und Rechtslage, dass eine Realisierbarkeit nur mit viel Phantasie vorstellbar wäre.
Unterhalb dieser Formate gebe es natürlich eine Vielzahl an Möglichkeiten der militärischen Zusammenarbeit. Sie reichten von intergouvernementalen Strukturen als Allianz von nationalen Armeen oder Segmenten nationaler Armeen bis hin zu den bereits praktizierten Formen von gemischten temporären Verbänden (z.B. EU Battle Groups), der bi- oder multinationalen Zusammenarbeit durch Pooling (z.B. European Air Transport Command) oder Sharing (z.B. Seeraumüberwachung der Nordsee durch Deutschland), gemeinsamen Vorhaben im Rahmen des Framework Nations Concept oder PESCO (Permanent Structured Cooperation).
Der Referent zeigte sodann die Möglichkeiten und Grenzen dieser unterschiedlichen Formen der Zusammenarbeit im Einzelnen auf und warf einen besonderen Blick auf die Komplexität der Entscheidungsprozesse beim Einsatz einer schnellen Eingreiftruppe in einer Krise.
Als Fazit blieb, dass die ambitionierten Ansätze zu einer supranationalen Europäischen Armee oder einer 28. Europäischen Armee in dem derzeitigen Konstrukt der EU keinerlei Realisierungschancen haben und selbst die bescheideneren Lösungen unter vielen nationalen Vorbehalten und Begrenzungen leiden, aber durchaus Potenzial zur Weiterentwicklung besitzen.
Die hochinteressanten, sehr systematischen und überzeugenden Ausführungen Dr. von Krauses wurden in einer sehr breit angelegten Aussprache vertieft. Dazu trugen etliche Teilnehmer mit ihren eigenen Erfahrungen in der europäischen militärischen Zusammenarbeit bei. Insgesamt herrschte im Auditorium ein deutlicher Zugewinn an Klarheit in dieser Thematik, bei einigen Teilnehmern allerdings auch eine gewisse Ernüchterung über die Realisierbarkeit allzu ambitionierter Ziele in der europäischen Verteidigungspolitik.
Wer den Vortrag noch einmal nachbereiten möchte oder nicht an ihm teilnehmen konnte, dem sei das schon erwähnte bei Springer VS erschienene Essential „Die Bundeswehr als Teil einer Europäischen Armee – Realistische Perspektive oder unrealistische Vision“ des Vortragenden zur Lektüre empfohlen.
Im Anschluss ließ der Leiter des RK WEST die Aktivitäten im laufenden – stark durch Corona geprägten – Jahr 2020 Revue passieren und gedachte dabei auch der der im Jahresverlauf verstorbenen Mitglieder Generalarzt a.D. Dr. Horst Hennig sowie Oberst a.D. Oskar v. Waechter.
Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.