Nach den NATO-Gipfeltreffen von Madrid und Vilnius – RK WEST vom 27.03.2024
„Nach den NATO-Gipfeltreffen von Madrid und Vilnius – was ist von uns allen gefordert“
Über zwei Jahre nach dem Beginn des fortdauernden brutalen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine und eine Woche vor dem historischen Datum des 4. April 1949, der sich zum 75. Male jährt, hatte der Regionalkreis WEST die Freude, General a.D. Jörg Vollmer als Vortragenden zu begrüßen.
Er hatte schon im August 2022 nach der erklärten „Zeitenwende“ auf der Grundlage seiner Erfahrungen als Befehlshaber des Allied Joint Force Command Brunssum (JCBS), Brunssum zur Rückkehr der Landes- und Bündnisverteidigung als Schwerpunkt der politisch-militärischen Ausrichtung des Nordatlantischen Bündnisses vorgetragen.
Beim Gipfel in Vilnius im Juli 2023 wurde die Ergebnisse der Aufträge von Madrid 2022, wenige Monate nach Beginn der Aggression, besprochen und gebilligt. Die Umsetzung steht also jetzt im Mittelpunkt.
Ein ganz wesentliches Ereignis, so General Vollmer, um Abschreckung und Bündnisverteidigung im Norden der Allianz zu verbessern, war der formelle Beitritt Schwedens zur Nordatlantischen Allianz am 7. März 2024 – sozusagen noch taufrisch. Wie die Ostsee als „NATO-Meer“ jetzt mit zweckmäßigen Grenzen und Kommandostrukturen in die Bündnisverteidigung eingefügt wird, ist ein wichtige Aufgabe. In der Diskussion wurde deutlich, dass die Ostsee gerade auch mit Blick auf die Herausforderung einer Verteidigung des Baltikums in einer Hand bleiben müsse. Das gibt Hinweise für eine Abgrenzung zwischen Brunssum und einem Atlantik-/Nordmeer-Kommando in Norfolk.
General Vollmer skizzierte noch einmal die drei Phasen der Allianz bis 2014/2022. Der klare Auftrag von 1949 bis 1989 war die Abschreckung der Sowjetunion. Die Jahre 1990 – 2011 bildeten einen Übergang mit Kriseneinsätzen auf dem Balkan, auch dem Luftkrieg gegen Serbien, der Bildung von Partnerschaften für den Frieden, mit der Öffnung der NATO für erste Staaten Zentral-/Osteuropas und einer geregelten Zusammenarbeit mit Russland. Mit den Terrorangriffen am 11. September 2001 trat der Kampf gegen den Terror neben Kooperative Sicherheit und Kriseneinsätze. In diesen Jahren folgten 2004 und 2009 zwei weitere Runden der Aufnahme neuer Mitglieder, die ihre Unabhängigkeit absichern und Schutz vor Russland suchen wollten. Sie waren in einer Reihe von Kriseneinsätzen gefordert. „Out of area“ bestimmte Alltag und Struktur vor einer nachgeordneten kollektiven Verteidigung. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und der Beginn des Krieges im Donbass führten zu einem Umdenken und mit den Ergebnissen der NATO-Gipfel in Wales und Warschau 2014 und 2016 zu ersten Schritten zurück zu Abschreckung und kollektiver Verteidigung.
Erst der Beginn des brutalen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 führte zur tatsächlichen Kehrtwende. Die seit Sommer 2021 begonnene Arbeit an einem neuen strategischen Konzept wurde in Madrid mit dem Strategischen Konzept 2022 abgeschlossen. Der Aggressor Russland wurde als direkte und wichtigste Bedrohung der Allianz benannt und Aufträge zu einer signifikanten Stärkung von Abschreckung und Verteidigung erteilt.
Ein Jahr später in Vilnius wurden die drei erarbeiteten Verteidigungspläne gebilligt. Damit verknüpft ist das „New Force Model“ der NATO. Es fordert neben der NRF 100.000 Soldaten im Tier 1 mit Verlegebereitschaft von 10 Tagen, 200.000 Soldaten im Tier 2 mit 30 Tagen und 500.000 Soldaten bis zu 180 Tagen. General Vollmer zeigte auf, wo die NATO mit der seit Frühjahr 2022 bisher aufgebauten Präsenz vom Nordkap bis zum Bosporus steht. Er machte deutlich, dass alle Nationen nun massiv in ihre Fähigkeiten in allen Dimensionen investieren müssen. Denn erst und nur wenn einsatzbereite, voll ausgestattete, personell befüllte und gut ausgebildete Truppenteile (Land, Luft, See und Cyber) für alle Verteidigungspläne zur Verfügung stehen und entsprechend der Pläne assigniert werden, kann die volle Wirksamkeit einer glaubwürdigen Abschreckung und kollektiven Verteidigung erreicht werden. Er unterstrich, dass damit die Beliebigkeit der immer nur kurzfristigen und zeitlich begrenzten „Einmeldungen“ von Truppen in Krisenoperationen beendet ist. Für ihn ist klar, dass die europäischen Bündnispartner hierfür deutlich mehr leisten müssen. Und er fügte seine Forderung hinzu, dass beim „Jubiläumsgipfel“ in Washington die Bedrohung des Bündnisses durch Russland klar herausgestellt wird und alle Bündnispartner überzeugend eigene Verpflichtungen und notwendige Anstrengungen für Freiheit und Sicherheit bestätigen.
Die anregende Diskussion rankte sich um einen Strauß von Anmerkungen und Fragen. Dazu zählten Bemerkungen zu den deutschen Beiträgen, immer auch hinsichtlich des weiter begrenzten Budgets. Aber auch die Grenzen der drei Regionalbereiche, insbesondere zwischen Nord und Zentrum wurden mit ihren unterschiedlichen Vor- und Nachteilen, einschließlich nationaler Interessen der skandinavischen Staaten, erörtert. Auch Vor- und Nachteile der Verlegung einer deutschen Brigade nach Litauen waren Thema. Viele weitere Punkte für eine glaubwürdige Abschreckung und Verteidigung wurden angesprochen. Auch die Unterstützung der Ukraine in ihrem Überlebenskampf mit Blick auf weitere und schnellere Unterstützung ihrer Verteidigung war Gegenstand unterschiedlicher Einlassungen.
Nach über 90 Minuten konnte der Moderator einen höchst interessanten, informationsreichen Vortragsabend mit großem Dank an General Vollmer und an das rege beteiligte Publikum beenden.
Dr. Klaus Olshausen
Generalleutnant a.D. und Leitender der Vortragsveranstaltung
Bild: Quelle Oberst a.D. Schuler, Sektion Köln-Bonn der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik e.V.