Nukleare Herausforderungen – nukleare Anforderungen – RK West am 12.07.2021
Das Thema „Nuklearwaffen“ spielte in Zeiten des Kalten Krieg – und insbesondere in der Nachrüstungsdebatte Anfang der 1980er Jahre – in der öffentlichen Diskussion eine bedeutende Rolle. Heute ist es weitgehend in den Hintergrund getreten. Lediglich im Zusammenhang mit Diskussionen um ein umfassendes Atomwaffenverbot und um die deutsche Teilhabe an Nuklearwaffen blitzte es gelegentlich wieder auf und könnte unter diesem Aspekt sogar zu einem Streitpunkt in möglichen Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl werden. Dies war der Grund, das Nuklearthema im RK WEST vertiefend zu behandeln.
Sicherheitsvorsorge durch nukleare Elemente
Unter dem Untertitel „Zwischen ‚Atomwaffenverbotsvertrag‘ und moderner nuklearer Abschreckung“ führte Generalleutnant a.D. Dr. Klaus Olshausen mit großer Sachkenntnis durch die komplexe Materie. Er stellte eingangs heraus, dass es in der deutschen Gesellschaft keine breite und sachlich fundierte Auseinandersetzung mit den schwierigen politischen, strategischen, technologischen und militärischen Aspekten der nuklearen Massenvernichtungswaffen gebe. Da sich Deutschland verpflichtet habe, auf jegliche Entwicklung von Atomwaffen zu verzichten und überdies bis Ende 2022 auch die friedliche Nutzung der Atomenergie beenden wolle, sei es nicht überraschend, dass viele Bürger den Atomwaffenverbotsvertrag der VN für das sinnvolle, ja gebotene Vorgehen hielten.
Tatsächlich sei das atomare Wirkungsgeflecht sehr viel komplexer. Um den Anteil der Sicherheitsvorsorge durch nukleare Elemente plausibel darzustellen, bedürfe es einer klaren Analyse der konfliktträchtigen Weltlage unserer Tage. Diese Analyse müsse im Hinblick auf die nukleare Komponente u.a. das Ende des INF-Vertrags, die nukleare Doktrin Russlands und dessen intensive Modernisierung der atomaren Bewaffnung, die amerikanische Überprüfung der nuklearen Lage in der „Nuclear Posture Review 2018“ mit ihren Konsequenzen, aber auch den Blick auf das nukleare China sowie Pakistan und Indien einschließen. Auch die nukleare Realität in Nordkorea mit interkontinentalfähigen Trägersystemen und die weiterhin hochaktuelle Frage eines „nuklearen Iran“ dürfe man bei der Betrachtung nicht außen vor lassen.
Nukleare Potenziale
Anhand einer Studie des Stockholmer SIPRI-Instituts stellte der Referent zunächst die global vorhandenen Nuklearpotenziale dar. Über die meisten nuklearen Sprengkörper verfügt Russland mit insgesamt 6.255, gefolgt von den USA mit 5.550. Die übrigen Nuklearwaffenstaaten folgen in weitem Abstand. Selbst China verfügt derzeit lediglich über 320 Sprengköpfe. Es rüstet aber intensiv auf und will als globaler Player wahrgenommen werden. Während dieses „2. Nukleare Zeitalter“ bereits deutlich komplizierter ist als das erste des Kalten Krieges, seien durchaus Entwicklungen denkbar, die zu einem noch schwieriger zu beherrschenden „3. Nuklearen Zeitalter“ führen könnten.
Weitere Staaten könnten in den Besitz von Nuklearwaffen gelangen und auch Nuklear-Terrorismus durch nichtstaatliche Akteure könne nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Mehrere nukleare Akteure komplizifizierten jedoch ein System der Abschreckung, wie es jahrzehntelang zwischen Ost und West erfolgreich gewirkt hat, und erschwerten Verhandlungen über die Begrenzungen der Waffensysteme. Da Abschreckung rationales Handeln voraussetzt, sei sie gegen eine Bedrohung im Rahmen von Nuklear-Terrorismus häufig nicht wirksam. Darüber hinaus hätten auch drastische Veränderungen des rechtlichen Rahmens erheblichen Einfluss auf die Nuklearstrategie.
Vertragliche Perspektiven und die Rolle der wichtigsten Player
Im Einzelnen beleuchtete Dr. Olshausen daher die Zukunft des Atomsperrvertrags (Nichtverbreitungsvertrag) von 1970, den Atomwaffenverbotsvertrag von 2017 bzw. 2021 sowie die Frage, welche Rolle die nukleare Abschreckung künftig spielen kann. Dabei erläuterte er ausführlich, warum nach Auffassung der NATO der Atomwaffenverbotsvertrag nicht zu einer Verbesserung der globalen Sicherheit und Stabilität beitragen kann. Er berücksichtige nicht die reale Bedrohungslage, sei inkompatibel mit der Abschreckungsstrategie des Bündnisses und nicht verträglich mit dem Atomsperrvertrag. Der jedoch sei eine unverzichtbare Plattform für die Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen, für die Beendigung des Wettrüstens, für Rüstungskontrolle und Abrüstung und für die Nutzung der Kernenergie für friedliche Zwecke. Als Garant für die Umsetzung des Prinzips unverminderter Sicherheit für alle sei er unverzichtbar.
Ausführlich stellte Dr. Olshausen sodann die Problematik des Atomvertrages mit dem Iran (JCPOA) dar, bevor er auf die INF-Problematik mit Russland einging. Das umfassend modernisierte Nuklearpotenzial Russlands sei Teil der asymmetrischen Strategie Putins und diene der Destabilisierung und Einschüchterung bis hin zu Nötigung und Erpressung. Dazu zählten die Erweiterung des Arsenals nuklearfähiger Raketen um die SSC-8, Iskander, die Modernisierung der Interkontinentalraketen, des „hypersonic glide vehicle“, neue luftgestützte ballistische Raketen und Marschflugkörper mit Nuklearantrieb.
Chinas Nuklearpolitik sei deklaratorisch bisher eher defensiv. Sie betone die gesicherte Zweitschlagfähigkeit und schließe einen Ersteinsatz ebenso aus wie einen Einsatz gegen Nicht-Nuklearstaaten. Es deute sich allerdings eine Änderung dieser Strategie hin zum Einsatz bei einem imminenten nuklearen Angriff an. China verfüge im Übrigen über ein breites Arsenal konventioneller Raketen und Marschflugkörper, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dual-capable seien, also auch mit nuklearen Gefechtsköpfen bestückt werden könnten.
Im Gegensatz zu China schlössen die USA bisher weder einen Ersteinsatz noch einen Einsatz gegen Nicht-Nuklearstaaten explizit aus. Präsident Biden habe aber bereits angekündigt, die Nuklearstrategie einer Revision zu unterziehen. Dabei wolle er ein Wettrüsten vermeiden, eine führende Rolle in der Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung übernehmen, das Gewicht nuklearer Waffen in der Strategie reduzieren, aber eine glaubwürdige und effektive Abschreckung auch für die Verbündeten weiterhin sicherstellen. Konkret wurde bereits die Verlängerung des New START-Vertrages für die strategischen Waffensysteme um 5 Jahre und die Bereitschaft der Wiederaufnahme der Verhandlungen mit dem Iran entschieden.
Die NATO hatte zuletzt auf ihrem Gipfeltreffen in Wales 2014 die Bedeutung einer glaubwürdigen Abschreckung bekräftigt und in ihrer jüngsten Gipfelerklärung vom Juni 2021 die Entschlossenheit betont, auf die Herausforderung durch die russischen Modernisierungsmaßnahmen angemessen zu reagieren. Das Maßnahmenpaket beinhaltet allerdings keine symmetrische Reaktion auf die russische Herausforderung, sondern umfasst Maßnahmen wie Stärkung der Luftverteidigung und Raketenabwehr, die Verbesserung von Nachrichtendiensten und Aufklärung sowie Rüstungskontrolle und Abrüstung. Insbesondere wird die Stationierung landgestützter nuklearer Mittelstreckenraketen ausgeschlossen. Damit wird den innenpolitischen Gegebenheiten in Deutschland und anderen europäischen Ländern Tribut gezollt. Wie auf diese Weise die entstandene Lücke in der nuklearen Balance geschlossen werden kann, ist noch nicht erkennbar.
Deutschland und die nukleare Teilhabe
Ein besonderes Kapitel widmete Dr. Olshausen dem Thema „Nukleare Teilhabe“. Dieses Prinzip in der NATO wurde Anfang der 60er Jahre nicht zuletzt auf Drängen der Bundesrepublik entwickelt, das als potenzielles Schlachtfeld einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West natürlich ein essenzielles Interesse hatte, an der Nuklearstrategie und nuklearen Einsatzplanung mitzuwirken. Andererseits strebte die USA als entscheidende Nuklearmacht des Bündnisses eine Risikobeteiligung der europäischen Bündnispartner an. Als Ergebnis dieses Prozesses trat an die Stelle eines ursprünglich angedachten Mitbesitzes an Nuklearwaffen die Mitwirkung und Zusammenarbeit in allen Fragen des nuklearen Teils der Abschreckung. Diesem Zweck diente die nukleare Planungsgruppe (NPG) innerhalb der NATO, in der alle Bündnispartner mit Ausnahme Frankreichs mitwirkten. Darüber hinaus erklärten sich einige Mitglieder – darunter Deutschland – bereit, Nuklearwaffen auf ihrem Territorium zu stationieren und sich an Einsätzen zu beteiligen. Über die Nachfolge der von der Bundeswehr dafür bereit gehaltenen dual-capable Tornado-Kampfflugzeuge ist bekanntlich eine politische Auseinandersetzung entbrannt, in der von einigen Akteuren das Prinzip der nuklearen Teilhabe grundsätzlich in Frage gestellt wird.
Dr. Olshausen wies eindringlich darauf hin, dass dieses Prinzip ein unverzichtbarer Teil der Sicherheitsvorsorge sei. Sowohl um konventionelle Kriege zu verhindern als auch um Einschüchterungen und Erpressungen durch nukleare Bedrohungen zu widerstehen, sei es erforderlich, dass die USA den Alliierten garantieren, auch mit nuklearen Waffensystemen Gegner von offensivem, ja aggressivem Auftreten abzuhalten. Die USA könnten für diese Leistung von den europäischen Partnern erwarten, dass sie einen Teil des Risikos mittragen.
Dazu gehöre das Eintreten für das NATO-Konzept einer Abschreckung, die auf dem Mix nuklearer und konventioneller Waffen beruht, ausreichende Beiträge zur konventionellen Verteidigung sowie ein verantwortliches Mitwirken in der NPG. Möglichst viele Länder, insbesondere die größeren, sollten darüber hinaus mit Plattformen für moderne substrategische Atomwaffen das Risiko der Gesamtstrategie teilen und nukleare Gefechtsköpfe dieser Kategorie auf ihrem Territorium aufnehmen.
Für Deutschland bedeute dies u.a., nach dem endgültigen Ausphasen des Tornado ein modernes Trägersystem verfügbar zu haben, das für nukleare Aufgaben zertifiziert werden kann, und die Bereitschaft, auch in Zukunft moderne nukleare Mittel auf deutschem Territorium zu stationieren. Geschehe dies nicht, würden die bündnisgemeinsame Abschreckung vor allem gegen nuklearfähige Gegner geschwächt und Hebel für Ansätze wirksamer Rüstungskontrolle und Abrüstung aufgegeben. Das liege nicht im wohlverstandenen Interesse Deutschlands als größtem europäischen Mitgliedsstaat in der Nordatlantischen Allianz und der Europäischen Union.
Abschließend stellte der Referent die in den jeweiligen Wahlprogrammen beschriebenen Positionen der CDU, der SPD, der GRÜNEN und der FDP zu diesem Problemkreis dar. Auch darin zeigte sich, dass es zu dieser Thematik noch deutlichen Diskussionsbedarf in unserer Gesellschaft gibt.
Einige der hochinteressanten, kenntnisreichen und überzeugenden Ausführungen Dr. Olshausens in dieser nicht ganz einfachen Materie wurden in der Aussprache aufgegriffen und vertieft. Dabei wurde u.a. die Frage eines Ersteinsatzes bei existenzbedrohenden nicht-nuklearen Angriffen, die Weiterentwicklung der Nuklear-Strategie in einem umfassenden Ansatz, der u.a. Cyber und Rüstungskontrolle einschließt, und die besondere Rolle Europas darin thematisiert. Auch der weiterwachsende globale Anspruch Chinas und konkret die Frage der Tornado-Nachfolge und dessen nukleare Bewaffnung in Deutschland waren Gegenstand der Diskussion.
Leider konnte auch dieser Vortrag nur als reine Online-Veranstaltung stattfinden.
Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.