“Percy Ernst Schramm (1894 – 1970)” – RK West am 12.04.2021

Der Historiker Percy Ernst Schramm stand im Mittelpunkt der Online-Veranstaltung des RK WEST im April.

Oberst a.D. Dr. phil. Michael Ph. Vollert beleuchtete Leben und Wirken eines der bekanntesten deutschen Historiker, der u.a. als Mediävist sowie als Sozial- und Wirtschaftshistoriker internationale Reputation erworben hatte. In Militärkreisen war er aber vor allem als Herausgeber des Kriegstagebuchs (KTB) im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) in den Jahren 1961 bis 1964 bekannt. Das hatte Percy Ernst Schramm von März 1943 bis April 1945 selbst geführt, zunächst als Rittmeister der Reserve, seit September 1943 im Dienstgrad Major.

Schramm war seit 1929 ordentlicher Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität, Göttingen. Er hatte als Soldat den gesamten Ersten Weltkriegs erlebt und wurde im September 1939 im Alter von 45 Jahren als Reserveoffizier erneut zum Wehrdienst einberufen. Als Führer des KTB wurde Schramm unmittelbarer Zeitzeuge der Endphase des Dritten Reiches. Wie Dr. Vollert weiter ausführte, wurde Schramm in der Nachkriegszeit ein gesuchter Gesprächspartner für andere Historiker, Journalisten und Militärs aus dem In- und Ausland. Ergänzend zu seinem herausragenden Ruf als Professor für die Geschichte des Mittelalters sowie für seine Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte seiner Heimatstadt Hamburg sei er damit zu einem der führenden Historiker für den deutschen Anteil am Zweiten Weltkrieg geworden.

In den Kern seiner Betrachtungen stellte Dr. Vollert die Kontroverse, in der nach Schramms Tod (1970) dessen Leben und Wirken, sowie dessen Einstellung zum NS-Staat von einigen jüngeren Geschichtswissenschaftlern kritisch hinterfragt wurden. An dieser Debatte beteiligten sich später weitere Personen, darunter auch Manfred Messerschmidt, ehemaliger Leitender Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr. Schramm sei als Kriegstagebuchführer selbst Teil des Systems gewesen – so der Vorwurf – und habe dazu beigetragen, einen verbrecherischen Krieg zu führen. Konkret wurde ihm angelastet, nur die Operationen an den Fronten protokolliert zu haben. Dagegen fehlten wesentliche politische und völkerrechtliche Aspekte oder die verzweifelte Lage der deutschen Zivilbevölkerung in den beiden letzten Kriegsjahren. Auch Hinweise auf die furchtbaren Taten der Einsatzgruppen im rückwärtigen Gebiet des Heeres, die katastrophale Lage der sowjetischen Kriegsgefangenen, sowie die Mitwirkung von Teilen der Wehrmacht an der Verfolgung und Vernichtung der Juden seien im KTB nicht zu finden. Seitdem galt Schramm als „umstrittener“ Historiker.

Wie Dr. Vollert jedoch darlegte, oblag die Gestaltung des KTB nicht der freien Entscheidung des jeweiligen Kriegstagebuchführers. In der Wehrmacht war – wie auch heute in der Bundeswehr – in Vorschriften festgelegt, was festzuhalten und zu dokumentieren ist. Ein KTB sei daher keine Geschichtsschreibung. Die von seinen Kritikern ausgemachten Defizite in der Darstellung seien insofern einem KTB-Führer nicht anzulasten.

Aus der Biographie Percy Ernst Schramms, die der Referent ausführlich beleuchtete, wurde keine besondere Nähe zum NS-Regime erkennbar. Vielmehr musste er seine Arbeit als Mitherausgeber der „Historischen Zeitschrift“ 1934 aus politischen Gründen beenden. Sein Eintreten für die Wahl Hindenburgs, nicht Hitlers, zum Reichspräsidenten wurde ihm ab 1933 nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten von örtlichen Parteiorganen mehrfach vorgeworfen. Dies sei der Beginn vielfältiger Kritik und von Zweifeln an seiner Gesinnung und Eignung als Hochschullehrer gewesen. Möglicherweise beantragte er deshalb 1937 die Aufnahme in die NSDAP, die zunächst abgelehnt, aber nach Intervention von Kollegen zwei Jahre später gewährt wurde. Der Rektor der Göttinger Universität und Organe der NSDAP hätten seine politische Zuverlässigkeit jedoch immer wieder in Frage gestellt. Mehrfach sei es zu Denunziationen, auch durch Kollegen, gekommen.

Ihren Höhepunkt hätten die politischen Bedrohungen Schramms im Herbst 1944 erreicht, als seine Schwägerin Elisabeth von Thadden wegen Verbindungen zum Widerstand verhaftet und hingerichtet wurde. Es habe der Intervention seines Chefs im OKW, Generaloberst Jodl, bedurft, um seine Entlassung aus der Universität und dem OKW zu verhindern. Dies war vermutlich der Grund dafür, dass sich Schramm später als Zeuge in den Nürnberger Prozessen für Jodl einsetzte und dessen Verurteilung zum Tode und anschließende Hinrichtung als ungerecht empfand.

Nach Kriegsende und anschließender amerikanischer Kriegsgefangenschaft kehrte Schramm im Oktober 1946 nach Göttingen zurück, konnte seine Lehrtätigkeit an der Universität allerdings erst Ende 1948 nach Abschluss seines Entnazifizierungsverfahrens wieder aufnehmen. Im Mittelpunkt seiner Tätigkeit stand jetzt die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Neben der Herausgabe des KTB des OKW gab es eine Reihe weiterer Veröffentlichungen zum Zweiten Weltkrieg, die zu den wichtigsten Quellen zur deutschen Geschichte von 1939 bis 1945 gehören.

Seit seiner Emeritierung 1963, bis zu seinem Tode, war er Kanzler des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaft und Künste. Er war Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern. Zweifel an seiner demokratischen Gesinnung, so Dr. Vollert, seien in der Bundesrepublik, auch mit Hinweis auf sein Verhalten in der NS-Zeit, nicht mehr aufgekommen.

Abschließend betrachtete Dr. Vollert intensiv und sehr differenziert das Verhältnis Percy Ernst Schramms zur Politik, das besonders geprägt wurde durch seine Herkunft aus dem Hamburger Großbürgertum und durch seinen Dienst als Reserveoffizier in beiden Weltkriegen. Er sei kein überzeugter Nationalsozialist gewesen, habe sich von dem Regime bis 1945 aber auch nicht distanziert. Seine Kenntnisse von den Verbrechen des NS-Staates oder mögliche Bedenken dagegen habe er bis zum Kriegsende nicht offenbart und so möglicherweise doch das System durch Stillschweigen gestützt. Andererseits habe er wohl keine realistische Möglichkeit gehabt, dagegen vorzugehen. Im Übrigen seien er und seine Familie nach der Verhaftung seiner Schwägerin aufs Höchste gefährdet gewesen. Persönliche Schuld habe er – nach allem, was bekannt sei – nicht auf sich geladen. Die Kritik an seiner Person aus späterer Sicht sei daher in gewisser Weise unhistorisch, weil sie nicht die Zeitumstände und Lebensverhältnisse der NS-Zeit berücksichtige.

An den sehr informativen Vortrag schloss sich eine Aussprache an, in der besonders das Kernproblem nochmals verallgemeinernd aufgegriffen wurde, ob man geschichtliche oder auch zeitgeschichtliche Ereignisse und Verhaltensweisen vorwiegend nach den heute geltenden politischen und moralischen Vorstellungen bewerten kann. Dabei wurde deutliche Kritik an Erscheinungsformen der sog. Cancel Culture geübt, in der abweichende Betrachtungsweisen nicht als Bereicherung des Dialogs gesehen, sondern vom Diskurs ausgeschlossen werden.

 

Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.