Rezension des Buchs “Gegen das eigene Volk”
Rezension von Hans Uwe Ullrich, Generalmajor a. D.
In nahezu allen Staaten ist die Armee nicht nur ein Instrument der Außen-, sondern auch der Innenpolitik. Bis in die unmittelbare Gegenwart kämpften Soldaten immer wieder auch gegen die eigene Bevölkerung.
Es ist das Verdienst von Michael P. Vollert, die Rolle der Armee zur Herstellung und Bewahrung von Ruhe und Ordnung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert kritisch untersucht zu haben. Nur auf den ersten Blick erscheint es, als sei das von ihm vorgelegte Buch über Ruhe und Ordnung mit dem Untertitel Einsätze des Militärs im Innern 1820 – 1918 nicht aktuell und aus der Zeit gefallen. Bei näherem Hinsehen spricht das Handeln der Armee jedoch eine deutlich andere Sprache – auch und ganz besonders heute. Die täglichen Fernseh- und Zeitungsnachrichten über Ägypten, die Ukraine oder Thailand zeigen, dass es unverändert aktuell ist, sich damit zu beschäftigen.
Der Verfasser, Dr. Michael P. Vollert, geboren 1938, war Generalstabsoffizier der Bundeswehr (Oberst i.G.) und nach dem Wechsel in die Wirtschaft Abteilungsleiter in einem Großunternehmen. Im Ruhestand studierte er Geschichte und wurde 2008 promoviert. In den elf Kapiteln seines Buches beschreibt er den Einsatz von Soldaten im Innern. Dabei beschränkt er sich weitgehend auf das Königreich Preußen und das Deutsche Reich im Zeitraum von 1820 bis 1918. Bei 281 Fällen von Aufruhr, Tumulten oder anderen Störungen von Ruhe und Ordnung allein zwischen 1817 und 1847 griff das Militär in Preußen 178 Mal ein, nur in 103 Fällen reichte die Polizei aus.
Das Buch liest sich trotz seiner etwas sperrigen Thematik spannend und zeigt die intensive Einbeziehung des Militärs, wenn die öffentliche Ruhe und Ordnung im Staat gefährdet schien. Vollerts Sprache ist erfreulich klar, er liebt kurze und prägnante Sätze, verzichtet weitgehend auf Soziologismen und die so beliebten Anglizismen. Von Anfang an wird deutlich, dass während des 19. Jahrhunderts die Polizeikräfte in den Staaten des Deutschen Bundes und nach 1871 im Deutschen Reich bei Störungen von Ruhe und Ordnung viel zu schwach waren und auch die Bürgerwehren in aller Regel versagten. Sehr schnell ertönte der Ruf nach Soldaten, um bei Demonstrationen oder Aufständen einzuschreiten. Vollert geht mit den häufig willkürlichen und mit übergroßer Härte durchgeführten Übergriffen des Militärs bei derartigen Anlässen ins Gericht. Gestützt auf solide Rechtskenntnisse zeigt der Verfasser auf, wie sehr dabei bisweilen gegen geltende Gesetze verstoßen wurde. Dies wird besonders deutlich, wenn er am Beispiel der Weberaufstände 1844 in Schlesien und im Revolutionsjahr 1848 in ganz Deutschland die Bedingungen schildert, unter denen die Störung von Ruhe und Ordnung den Einsatz von Soldaten nach sich zog.
Ebenfalls schildert er, wie das Militär in der Regel bereit war einzuschreiten, auch wenn die gesetzlichen Voraussetzungen dafür nicht erfüllt waren. Deutlich wird auch, wie unterschiedlich die Verhältnisse in Preußen und den süd- und südwestdeutschen Staaten waren.
Man darf den hart kritisierten „Höheren Ständen“ durchaus attestieren, dass aus Ihrer Sicht Sorgen wegen eines Umsturzes und die Erinnerung an die Französische Revolution durchaus begründet waren. Um die Erhaltung des Status quo wurde zu allen Zeiten gekämpft – bis heute. Dies ging indessen dann zu weit, wenn es um konkrete Pläne für einen Staatsreich von oben oder zur Vorbereitung eines Bürgerkrieges ging, um die Alte Ordnung wieder herzustellen, die nach der Revolution von 1848 durch eine neue Verfassung überwunden worden war. Erstmals gab es 1862 sogar Planungen im preußischen Militärkabinett für einen Einsatz der Armee, um die Verfassung abzuschaffen. Später wurden diese Pläne erneut aufgegriffen und besonders durch den späteren Generalfeldmarschall Grafen Alfred von Waldersee vorangetrieben. Das Anwachsen der Sozialdemokraten auf über eine Million Mitglieder hatte Befürchtungen ausgelöst, die in dem Schlagwort gegen Demokraten helfen nur Soldaten plakativen Ausdruck fanden. Letztlich wurden diese Pläne beiseite gelegt, weil bis zu Kaiser Wilhelm II. die Erkenntnis reifte, dass ein Einsatz der Armee gegen die eigene Bevölkerung nicht möglich wäre. Dies alles schildert Vollert spannend im Kapitel 8 seines Buches.
Geradezu beklemmend war die Hilflosigkeit der Ordnungskräfte vor und während des Ersten Weltkrieges. Mit großer Objektivität schildert der Autor, wie unausweichlich es zur Revolution 1918 kommen musste. Das Deutsche Reich war am Ende, die Armee weit entfernt an den Fronten, das Volk hatte das Vertrauen in die Regierung verloren, die innere Ordnung zerbrach.
Es ist erstaunlich, dass hier zum ersten Mal eine Gesamtschau dieser Problematik vorgelegt und eine Lücke in der Literatur geschlossen wurde. Das Buch verdient einen breiten Leserkreis, auch weil der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in vielen Staaten dieser Welt Auswirkungen auf Europa und damit auf uns haben wird.
Michael P. Vollert
Für Ruhe und Ordnung
Einsätze des Militärs im Innern (1820 – 1918)
Preußen – Westfalen – Rheinprovinz
Ca. 224 Seiten, ca. 18,00 Euro
Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2014
ISBN 978-3-8012-0449-5