“Russland und der Westen – Umgang mit einem schwierigen Nachbarn” – RK West am 07.02.2022
Der seit Anfang November 2021 erfolgte erneute Truppenaufmarsch Russlands an der Grenze zur Ukraine hat eine äußerst bedrohliche Situation für die Ukraine und insgesamt für den Frieden in Europa geschaffen. Er wurde verknüpft mit Forderungen gegenüber der NATO, quasi eine russische Einflusssphäre in Ost- und Nordeuropa anzuerkennen und nicht nur keine weiteren Staaten in die NATO aufzunehmen, sondern ihre Truppen aus den Ländern der sog. Osterweiterung zurückzuziehen. Dies war der Anlass, das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen näher zu betrachten. Unter dem Untertitel „Umgang mit einem schwierigen Nachbarn“ führte Generalleutnant a.D. Dr. Klaus Olshausen mit großer Sachkenntnis durch die Materie.
Einführend stellte er dar, dass der geographische Aspekt in den politischen Beziehungen zwischen Ländern und Bündnissen trotz Globalisierung nicht obsolet geworden sei. Amerikas Blickwinkel sei durch die Lage zwischen zwei Ozeanen bestimmt, während Europa, mehr oder weniger ein Appendix der massiven eurasisch-afrikanischen Landmasse, eine andere Zentrierung habe. Aufgrund dieser Gegebenheiten bedürfe Europa, um sich in seiner Randlage behaupten zu können, politisch und geostrategisch des Rückhalts durch Amerika.
Der Referent richtete sodann sein Augenmerk auf Russland, das mit Abstand größte Flächenland der Erde mit einer Bevölkerung von ca. 144 Millionen Menschen, das zugleich mit 8-9 Einwohnern/km² eines der am dünnsten besiedelten ist. Es grenzt an 14 Nachbarstaaten. Seine gesellschaftliche und kulturelle Einordnung habe seit Jahrhunderten in dem Versuch eines Spagats zwischen Ost und West bestanden. Dabei habe sich in den letzten Jahrzehnten jedoch zunehmend eine Mentalität entwickelt, die ein geeintes, freies und friedliches Europa nach Ende des Kalten Krieges als Bedrohung des politischen Systems Russlands empfinde und es daher ablehne. Zu der häufig als Begründung herangezogenen Behauptung, Russland werde eingekreist, zitierte er den bekannten russischen Literaten Sorokin, der 2014 in der ZEIT geschrieben hatte, bereits ein Blick auf die Landkarte zeige, dass Russland ein riesiges Land sei, das man gar nicht einkreisen könne. Das sei vielmehr eine Paranoia in den Hirnen der Kreml-Funktionäre.
Die Ukraine, das Objekt der russischen Drohkulisse, ist flächenmäßig das zweitgrößte Land Europas; es grenzt an sieben Nachbarstaaten. Von den ca. 41 Millionen Einwohnern sind 78% Ukrainer, 17% ethnische Russen. Administrativ ist das Land in 24 Bezirke (Oblaste) gegliedert, von denen die Krim bekanntermaßen 2014 durch Russland annektiert wurde. Ca. 30% der Oblaste Donezk und Lugansk werden von den russisch-unterstützten Separatisten kontrolliert. Politisch ist die Ukraine eine parlamentarisch-präsidiale Republik, die sich in den letzten Jahren erheblich weiterentwickelt habe und in ihren Strukturen deutlich demokratischer sei als die Russische Föderation. Ein selbständiger Staat wurde die Ukraine 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion, wobei in dem damaligen Referendum zur Unabhängigkeit auch in den östlichen Gebieten jeweils Mehrheiten von deutlich über 80% für die Unabhängigkeit votierten. Lediglich auf der stark russisch-geprägten Krim, die in der Sowjetunion erst 1954 von der Russischen an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik übertragen wurde, lag die Zustimmungsrate darunter, nämlich bei 54%. Eine Mehrheit ethnischer Russen gab es – zumindest bis zum Ausbruch der Kampfhandlungen 2014 – auch in den von den Separatisten beanspruchten Gebieten nicht. Eine Besonderheit und zugleich ein Ärgernis für Russland im Bereich der Religion sei, dass die dominierende orthodoxe Kirche seit 2018 nicht mehr dem Moskauer Patriarchat, sondern dem Patriarchen von Konstantinopel zugeordnet ist.
Im ersten Jahrzehnt nach dem Zerfall der Sowjetunion, also seit der Unabhängigkeit der beiden Staaten, war das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland durch eine russische Dominanz geprägt. Diese Dominanz wurde seit der sog. Orange Revolution 2004 unter wechselnden Regierungen zunächst in unterschiedlichem Maß, mit dem sog. Euromaidan 2013 und der Hinwendung zu Europa aber eindeutig in Frage gestellt. Die daraufhin erfolgte Annexion der Krim durch Russland und die massive Unterstützung der Separatisten im Donbass zerrüttete das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine nachhaltig und führte zu inzwischen achtjährigen Kampfhandlungen, die auch durch die beiden Minsker-Abkommen nicht nachhaltig eingedämmt werden konnten.
Die Spannungen wurden durch den aktuellen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine und an der ukrainisch-belarussischen Grenze massiv verschärft. Russland benutzt diese Drohkulisse auch, um seine weitergehenden Ziele gegenüber den westlichen Staaten, gegenüber NATO und EU durchzusetzen. Der Aufmarsch – hier in einem Kartenbild dargestellt – umfasse auch Manöver in Belarus nahe der ukrainischen Grenze, die nur 80 km von Kiew entfernt sei. Wenn ein gewaltsamer Regimewechsel in Kiew geplant sei, könnten diese Kräfte dafür eingeplant sein. Aber auch die Schwarzmeerküste und die Hafenstadt Odessa seien vom Meer und von der Krim aus gefährdet. Zwar sei auch von Clausewitz schon beschrieben worden, dass es Truppenbewegungen geben könne, die nicht der unmittelbaren Landnahme dienten, sondern auf das Auseinanderbringen von Bündnissen und Koalitionen zielten. Aber ein Namensartikel Putins, in dem er der Ukraine abspricht, ein eigenes Volk, ein eigener Staat zu sein, könnte darauf hindeuten, dass er tatsächlich Russland mit der Ukraine und Belarus vereinigen will. Alle Elemente, die zu einem umfassenden Angriff erforderlich sind, hat Putin jedenfalls von drei Seiten um die Ukraine gruppiert. Wieweit er diese Option tatsächlich nutzen werde, müsse man sehen.
Es gelte auch hier der Clausewitz’sche Grundsatz, dass der militärisch überlegen Handelnde die Fakten setze. Auf die konkrete Situation bezogen bedeute dies: Derjenige, der militärische Maßnahmen von vornherein ausschließe bzw. eine sich nach Artikel 51 der VN Charta verteidigende Armee nicht unterstütze, nehme in Kauf, dass die territoriale Integrität der Ukraine zerstört werde bzw. bleibe.
Dr. Olshausen ging sodann auf die Minsk II-Vereinbarungen ein, die der Ukraine mehr oder weniger aufgezwungen worden seien. Die entscheidenden Punkte würden von Russland anders gedeutet als von Kiew, so dass sie immer wieder Vorwände für Druck auf Deutschland und Frankreich lieferten, endlich die Ukraine zum „Einknicken“ zu bewegen. Stattdessen sollten die beiden Nationen fordern, dass Russland die Ost-Ukraine räumen und die Kontrolle der Staatsgrenze wieder an die Ukraine oder ersatzweise die OSCE übergeben müsse. Dass Russland einer solchen Grenzkontrolle nicht zustimmt, zeige den Propagandacharakter der russischen Behauptung, es gebe keine russischen Kräfte in den Separatistengebieten. Und die gem. Minsk vorgesehenen Wahlen in der Ost-Ukraine könnten natürlich nur unter der Voraussetzung stattfinden, das die vor den Kriegswirren geflohenen Bürger wieder in ihre Heimatorte zurückkehren dürften.
Tatsächlich sei aber das Ost-Ukraine-Problem für Russland gar nicht das zentrale Thema, sondern werde lediglich als Vorwand benutzt. Die übergeordnete Absicht sei vielmehr, die USA aus Europa herauszudrängen, um in einem eurasischen Gefüge von Lissabon bis Wladiwostok als Großmacht auf Augenhöhe mit den USA und China zu agieren. Als Teilziel auf diesem Weg wolle man kein weiteres Nachbarland als Mitglied der NATO oder der EU akzeptieren. Die Forderungen gingen aber bekanntlich weit darüber hinaus und stellten im Grunde den Versuch einer „Reconquista“ dar. Mit dem gegenwärtigen Verhalten habe man allerdings das Gegenteil erreicht, nämlich die USA wieder stärker an Europa gebunden und eine erstaunliche Einigkeit der EU herbeigeführt.
Neben dem Truppenaufmarsch sei ein besonderes Augenmerk auf Russlands nukleare Potenziale zu werfen. Russland verfügt über ein großes Arsenal von Kurzstreckenraketen bzw. Marschflugkörpern des Typs Iskander, die atomar bestückt werden können und – nach russischen Angaben – eine Reichweite von bis zu 500 km haben. Die Interkontinentalraketen sind modernisiert worden und die „hypersonic glide vehicles“ scheinen zumindest im Rahmen von Truppenversuchen bereits eingesetzt worden zu sein. Darüber hinaus verfügt Russland über luftgestützte ballistische Raketen und Marschflugkörper mit Nuklearantrieb. Welche Auswirkungen dies auf das nukleare Gleichgewicht habe, müsse noch im Einzelnen untersucht werden.
Die schriftlich am 17. Dezember 2021 fixierten Hauptforderungen Russlands an die USA und die NATO beinhalteten u.a. die Zusicherung, auf eine Erweiterung der Nato zu verzichten und militärische Aktivitäten in der Ukraine, Osteuropa und dem Kaukasus aufzugeben. Die NATO solle darüber hinaus keine zusätzlichen Truppen und Waffen außerhalb jener Staaten stationieren, die bereits im Jahr 1997 Mitglieder der Allianz waren.
Dass die NATO diese Forderungen nicht erfüllen würde, musste auch der russischen Führung vorab klar sein. In der Tat wurde dann in einer ersten Antwort der NATO erklärt, dass die „Tür der NATO offen“ bleibe und jedes Land selbst entscheiden könne, ob es eine Mitgliedschaft beantragen wolle. Gleichzeitig wurde aber eine Reihe von Feldern für eine mögliche Zusammenarbeit benannt. Dazu gehörten das Wiederherstellen der beiderseitigen Vertretungen, Maßnahmen zur Risikoreduzierung und Vertrauensbildung, Gespräche zu einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur im Rahmen der OSCE, Gespräche zur Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie bilaterale Gespräche zwischen den USA und Russland zu Nuklearwaffen.
Bei der Frage einer umfassenden gemeinsamen Sicherheitsstruktur sei natürlich die Schwierigkeit zu berücksichtigen, dass die USA und Russland ihre Positionen zentral eigenverantwortlich regeln könnten. Dagegen müssten in NATO und EU stets eine Vielzahl unterschiedlicher Interessen „unter einen Hut“ gebracht werden. Der kürzliche unabgestimmte Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán in Moskau mache diese Schwierigkeit beispielhaft deutlich. Da helfe dann auch nicht die Formel, in die Generalleutnant Wiermann, der derzeitige Deutsche Militärische Vertreter bei NATO und EU, die Gemengelage gefasst habe: „Keine Sicherheit in Europa ohne eine EU, keine Sicherheit für Europa ohne NATO (USA).“ Bei allen Interessenunterschieden im Detail sei aber unbestritten, dass auch für EU-Staaten, die nicht der NATO angehören, die Allianz unverzichtbar für ihre Sicherheit bleibe. Dies zu einem geschlossenen Auftritt zusammenzubringen, sei jedoch nicht immer ganz einfach.
Der übergeordnete Zweck des Bündnisses, nämlich Frieden, Sicherheit und Wohlstand der Mitgliedsstaaten zu gewährleisten, stehe jedoch bei niemandem in Frage. Der Unterschied im Verhältnis Europas zu den USA und zu Russland sei offenkundig: Die USA betrachteten wir zwar auch als wirtschaftlichen Wettbewerber, aber vorrangig als Partner und Verbündeten. Russland dagegen sei ein Nachbar, der zwar auch Partner in etlichen Bereichen sei (u.a. bei Terrorismus und Klima), aber unverkennbar – wie auch China – ein Systemrivale, der die westliche Gesellschaftsform explizit ablehne. Da ein regelbasiertes Zusammenwirken derzeit offenkundig nicht möglich sei, komme es darauf an, dass NATO, USA und EU einen möglichst kohärenten umfassenden Sicherheitsverbund bildeten. Die aktuelle Krisenpolitik werde zeigen, inwieweit ein solcher bereits erreicht sei.
Die folgende thematisch breit gefächerte Aussprache umfasste u.a. Fragen nach den Erfolgsaussichten einer Fortsetzung der Minsk-Verhandlungen im Normandie-Format, der Möglichkeit einer Revitalisierung des NATO-Russland-Rats und gegenseitiger Vertretungen, der Rolle der Türkei im aktuellen Konflikt, dem Zeitpunkt eines möglichen Angriffs, der Möglichkeit eines parallelen Vorgehens Chinas gegen Taiwan und der Auswirkungen der russischen Drohungen gegenüber Schweden und Finnland auf deren Verhältnis zum Bündnis.
Diese Vortragsveranstaltung in ihrer beklemmenden Aktualität lieferte eine Fülle an Erkenntnissen zu den Ursachen und Hintergründen der russischen Drohkulisse gegenüber der Ukraine mit ihren Auswirkungen auf NATO und EU. Leider konnte auch sie nur als reine Online-Veranstaltung stattfinden.
Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.