“Russlands Krieg in der Ukraine und der Nahe Osten” – RK West am 23.05.2022
Dr. Zaur Gasimov von der Abteilung Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn stellte in der ersten Präsenzveranstaltung des RK WEST nach längerer Pause einführend die leitenden Gedanken der russischen militärischen Führung und des russischen Außenministers dar.
Armeegeneral Gerassimow, seit 2012 Generalstabschef der russischen Streitkräfte und Erster Stellvertreter des Verteidigungsministers, hat sich mehrfach öffentlich zum Charakter künftiger Kriege geäußert. Bekannt sind vor allem seine Ausführungen zur hybriden Kriegführung, wie sie vorgeblich vom Westen geplant werde, aber tatsächlich eher als Handlungsanweisung für das eigene Vorgehen in Konflikten erscheint. In einem Aufsatz von 2017 „Die Welt am Rande des Krieges“ wird zumindest im Nachhinein deutlich, dass Kriegführung im Denken der russischen Armeeführung als reale Möglichkeit zur Durchsetzung politischer Ziele nicht ausgeschlossen wird. Dabei wird stets betont, dass sich Russland einem zunehmend bedrohlichen Westen und einer gegen Russland gerichteten NATO gegenübersehe. Auch Außenminister Lawrow, als Berufs-Diplomat ausgebildeter Orientalist, begründet nicht nur das militärische Vorgehen gegen die Ukraine, sondern auch die russischen Interventionen und Aktivitäten im Nahen Osten mit dem „totalen hybriden Krieg“, den der Westen“ gegen sein Land führe.
Mit dem russischen Verteidigungsminister Schoigu, der wie der Generalstabschef seit zehn Jahren im Amt ist, sind in besonderer Weise die von ihm 2015 eingeführten „International Army Games“ verbunden. Diese Veranstaltungen finden jährlich mit jeweils ca. 30 teilnehmenden Nationen und mehreren Tausend Teilnehmern in Russland und befreundeten Nationen statt, darunter fast alle Länder des Nahen Ostens, aber auch z. B. Serbien und sogar das NATO-Mitglied Griechenland. Als eine Mischung aus Militärmesse und militärischen sowie sportlichen Wettkämpfen haben sie sich als ein sehr effizientes Mittel der Militärdiplomatie erwiesen.
Dr. Gasimov widmete sich sodann der Frage, worum es Russland in der aktuellen Situation gehe. Ziel der russischen Diplomatie sei es, Konflikte in der NATO sowie im gesamten Westen zu schüren und zu vertiefen. Dazu setze man auf Desinformation und Propaganda u.a. in den sozialen Medien, im staatlichen Auslandssender RT (früher Russia Today), im Nachrichtenportal „Sputnik“, in der Nachrichtenagentur „RIA Novosti“ sowie auf wirtschaftliche Verflechtungen und Einflussagenten. Sehr hilfreich für die Umsetzung dieser Agenda im Nahen und Mittleren Osten seien im Übrigen sehr gute Fremdsprachkenntnisse, die durch ein militärisches Institut für Fremdsprachen des Nahen und Mittleren Ostens in großem Umfang vermittelt würden und zur Ausbildung von Offizier-Dolmetschern führten. Dadurch könne man in der Region weitgehend auf Ortskräfte als Sprachmittler verzichten.
Die Ziele und Methoden der russischen Diplomatie in diesem Raum habe ein ehemaliger Botschafter in Ägypten und dem Iran 2016 in seinen Memoiren „Unser Naher Osten“ [übersetzt] beschrieben. Es gehe darum, mit geringem Aufwand einen optimalen Ertrag zu erzielen. Dazu seien alle Synergieeffekte aus der Verknüpfung und engen Verflechtung von Wissenschaft, Wirtschaft, Militär und Geheimdiensten zu nutzen. Am Beispiel des Exports von Kernkraftwerken, bei denen Russland weltweit, aber auch speziell im Nahen und Mittleren Osten führend ist, zeigte der Referent auf, wie mit einem wirtschaftlichen „All-inclusive-Paket“ Abhängigkeiten erzeugt werden. Dazu gehört u.a. ein achtjähriges Ausbildungsprogramm in Russland für junge angehende Ingenieure der jeweiligen Importnation. Dies hat naturgemäß eine stark prägende Wirkung und bietet die Möglichkeit, auch kulturelle und politische Vorstellungen des Gastlandes zu vermitteln. Begünstigt wird der russische Einfluss in einigen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens zudem dadurch, dass Teile der Eliten in ehemals sozialistischen Ländern seinerzeit in der Sowjetunion studiert haben und entsprechend sozialisiert wurden.
Dieser Ansatz der russischen Diplomatie bei geschickter Nutzung all der beschriebenen Mittel und Methoden habe sich auch im gegenwärtigen Konflikt mit der Ukraine als durchaus wirksam erwiesen. So habe sich kaum ein Land des zusammenhängenden russischen Zielbereichs „Greater Middle East“ von Marokko im Westen bis Pakistan im Osten und Kasachstan im Norden den gegen Russland im Zuge des Ukraine-Kriegs verhängten Sanktionen angeschlossen. Auch bei der Abstimmung in der Vollversammlung der UN hätten sich diese Länder weitgehend der Stimme enthalten oder seien der Abstimmung ferngeblieben. Wie weit der russische Einfluss auf die Politik der jeweiligen Länder geht, zeigte Dr. Gasimov an Beispielen auf. Besonders stark vertreten ist Russland natürlich in den post-sowjetischen Staaten in diesem Raum. Aber spätestens mit der Intervention in Syrien hat sich Russland auch zu einem der wichtigsten Player im Nahen Osten gemacht. Selbst für Israel ist – trotz seiner engen Bindungen an die USA – das Verhältnis zu Russland von hoher Bedeutung, was sich in der Zurückhaltung bei der Verurteilung des Ukraine-Kriegs niederschlägt. Und auch auf dem Balkan – insbesondere in Serbien und Bosnien – ist der russische Einfluss unübersehbar.
Eingehend beleuchtete Dr. Gasimov das vielschichtige Verhältnis zwischen Russland, dem Iran und der Türkei – Staaten, die trotz teilweiser sehr unterschiedlicher Interessen einen Modus vivendi gefunden hätten. Auffallend sei, dass sich Russland auf unterschiedlichen Gebieten bemühe, ein unverkrampftes Verhältnis zur muslimischen Welt zu pflegen – nicht zuletzt auch wegen der religiösen Minderheiten im eigenen Land. Unterlegt wurde dies mit einem Beispiel der Nutzung sozialer Medien zu diesem Zweck aus dem Bereich des Sports. Das Verhältnis zur Türkei ist ambivalent. Interessanterweise hat Russland die PKK, zu der schon in der Sowjetzeit ein enges Verhältnis bestand, nicht als terroristisch eingestuft. Alle relevanten kurdischen Gruppen sind in Moskau vertreten. Andererseits pflegt Russland eine intensive wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Türkei und errichtet beispielsweise in Akkuyu ein großes Kernkraftwerk, dessen Bau selbst in der Konfliktphase nach dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs durch die Türkei nicht unterbrochen wurde. Umgekehrt werden viele Gebrauchsgüter in Russland aus der Türkei importiert.
Zusammenfassend stellte Dr. Gasimov noch einmal heraus, wie geschickt die russische Politik durch Nutzung vielfältiger Mittel ihren Einfluss in der Welt und hier insbesondere im Nahen und Mittleren Osten konzertiert erweitert und dabei erfolgreich anti-westliche Einstellungen schürt.
In der ausführlichen Aussprache wurde ein breites Spektrum an Themen angeschnitten. Dazu gehörten u.a. der erstaunlich geringe Effekt von Cyberaktivitäten im Ukraine-Krieg, die Wirkung der russischen Desinformation in der russischen Bevölkerung und bei russisch-stämmigen Bürgern in Deutschland, bei denen imperialistische Vorstellungen weit verbreitet seien. Weitere Fragen zielten auf einen möglichen Einsatz von Nuklearwaffen durch Putin und die Rolle der russischen Militärführung in einem solchen Fall sowie auf die Stabilität des Regimes im Allgemeinen. Bei der Betrachtung der türkischen Außenpolitik unter Erdogan und dessen Rekurrieren auf das Osmanische Reich wurden zwar Ähnlichkeiten zu Putins Instrumentierung der Geschichte für das eigene politische Narrativ, aber auch gravierende Unterschiede in den politischen und wirtschaftlichen Systemen konstatiert.
Diese außerordentlich lehrreiche Vortragsveranstaltung lieferte eine Fülle an Erkenntnissen zur russischen Politik gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten sowie tiefe Einblicke in das System der russischen Diplomatie, Agitation und Propaganda insgesamt. Es ist offenbar zielstrebiger, wirkungsvoller und raffinierter angelegt, als es angesichts der dafür genutzten teilweise haarsträubenden Fake News aus westlicher Sicht häufig erscheint.
Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.