Stehen wir vor einer neuen technologischen Revolution im Sicherheitsbereich?
Die 52. Sicherheitspolitische Informationstagung zum Thema
„Strategie im 21. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung moderner technologischer Entwicklungen: Welche Herausforderungen stellen künstliche Intelligenz und autonome Systeme an Politik, Gesellschaft und Streitkräfte?“
Bei Auseinandersetzungen und in ihrer Extremform bei Kriegen wird Gewalt angewandt, um einen Gegner zur Erfüllung des eigenen Willens zu zwingen. Die Wahl der geeigneten Mittel sowie des rechten Maßes der Mittel für die Gewaltanwendung bestimmt nach Clausewitz als Kern einer Strategie die Möglichkeiten des Handelns. Seit Clausewitz‘ Zeiten hat sich allerdings die Palette militärisch nutzbarer Mittel erheblich erweitert.
Moderne Werkstoffe, Nanotechnologie, hochauflösende Sensorik und allgegenwärtige Digitalisierung haben die Herstellung leistungsfähiger automatisierter Systeme mit zunehmend auch autonomen Fähigkeiten ermöglicht. Die Technologien des Cyber- und Informationsraums durchdringen heute alle Lebensbereiche. Umfassende Vernetzung, superschnelle Übertragungskanäle, komplexe Speicher- und Prozessortechnologien für „Big Data“ und „Künstliche Intelligenz“ haben die Fähigkeiten moderner Systeme in nahezu ungeahnter Weise gesteigert. Damit wurden jedoch nicht nur neue, erheblich ausgeweitete strategische, operative und taktische Möglichkeiten geschaffen, sondern zugleich auch neue Risiken und Verwundbarkeiten erzeugt. Darüber hinaus sind vielfältige, teilweise höchst komplizierte Konsequenzen für die Sicherheitspolitik sowie zu ethischen, völkerrechtlichen, soziologischen, personellen und wirtschaftlichen Aspekten entstanden.
Mit diesen Themen und Fragen befasste sich 52. Sicherheitspolitischen Informationstagung. Diese Tagung fand vom 22. bis 24. August 2018 erneut als gemeinsame Veranstaltung der Clausewitz-Gesellschaft e.V und der Führungsakademie der Bundeswehr im Manfred-Wörner-Zentrum der Clausewitz-Kaserne in Hamburg statt.
Im Mittelpunkt der Vorträge und Diskussionen standen insbesondere die künftigen Möglichkeiten, Chancen und Risiken absehbarer disruptiver Technologien oder technologischer Quantensprünge und vor allem die damit verbundene “dritte waffentechnische Revolution“. Den inhaltlichen Aufschlag platzierten sehr treffsicher der investigative Journalist und Buchautor Jay Tuck sowie Professor Dr. Dr. Michael Lauster, der Leiter des Fraunhofer-Instituts für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen. Ihre von den über 200 Zuhörern mit großer Aufmerksamkeit aufgenommenen Sachstände und Perspektiven wurden dann in einer Gesprächsrunde mit Professor Dr. Holger Mey vertieft. Kernpunkte der Diskussion, wie z.B. Herausforderungen durch neuartige Risiken und Gefährdungen infolge moderner, disruptiver Technologien, Gewährleistung menschlicher Kontrolle über künftige Systeme, Fragen zur ethischen Dimension von Waffensystemen mit autonomen Fähigkeiten, zur Proliferation von sensitiven Technologien, zu völkerrechtlichen Konsequenzen, zu Möglichkeiten von Rüstungsbegrenzung, Abrüstung und Vertrauensbildung, aber auch zur Gewährleistung hinreichender Resilienz von gesellschaftlichen, politischen und staatlichen Strukturen standen nicht nur bei dieser Gesprächsrunde im Mittelpunkt. Sie zogen sich wie ein roter Faden durch die gesamte Tagung.
Ein von Teilnehmern des Lehrgangs Generalstabs-/Admiralstabsdienst National (LGAN) 2017 durchgeführtes „Spezial-Panel“ untersuchte die Auswirkungen Künstlicher Intelligenz (KI) und Autonomer Waffensysteme auf die Militärstrategie. Hierbei präsentierten die Panellisten ihre Überlegungen in einem ganzheitlichen Sicherheitsansatz und stellten zuvor erarbeitete Thesen zur Diskussion. Weitgehend unbestritten waren die Erwartungen an moderne Technologien, soweit sie zu einer Stärkung der menschlichen Leistungsfähigkeit (Human Performance Enhancement, HPE) beitragen können. Hinsichtlich erwartbarer autonomer Fähigkeiten wurde wiederholt die Forderung nach Einhaltung ethischer Normen unterstrichen und die Notwendigkeit zur Festlegung und Beachtung völkerrechtskonformer Einsatzmodalitäten und Verhaltensregeln (Code of Conduct) begründet.
Der Präsident des Bundesamtes für die Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), Dipl.-Betrw. Arne Schönbohm hatte bereits in seiner Gastrede beim Auftakt-Abendessen am 22. August die Sicherheit in der Informationstechnik als gesamtstaatliche Aufgabe eindrucksvoll vorgestellt. Teilweise hierauf aufbauend widmete sich das zweite Panel dem Thema „Welche Rolle werden künftig passive und aktive Cyber-Verteidigungs-Fähigkeiten als integrierte Anteile von Operationen in der Militärstrategie einnehmen?“ Neben Professor Dr. Peter Martini, dem Leiter des Fraunhofer-Instituts für Kommunikation, Informationsverarbeitung und Ergonomie (FKIE), und Generalmajor Jürgen Setzer, dem Stellvertretenden Inspekteur des Kommandos Cyber- und Informationsraum, kamen auch ausländische Stimmen zu Wort. Der Cyber-Sicherheits-Koordinator im Israelischen Außenministerium, Herr Iddo Moed, und die Direktorin des „NATO Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence (CCDoE)“ in Tallinn/Estland, M.A. Merle Maigre, beleuchteten die Thematik aus nationaler israelischer bzw. NATO-Sicht. Dabei unterstrichen beide die hohe Bedeutung umfassender, vor allem auch zivil-militärischer Kooperation für eine wirksame Cyber-Verteidigung angesichts der globalen, zeitkritischen und grenzüberschreitenden Cyber-Bedrohung auf hohem und weiter zunehmendem Niveau, wie sie bereits heute existiert.
Cyber-Verteidigung ist inzwischen ein integraler Bestandteil der kollektiven Verteidigung der NATO. Der Cyber- und Informationsraum wird heute einvernehmlich als fünfte operative Domäne, neben Land, Luft, See und Weltraum, anerkannt. Angesichts der in dieser Domäne stets latent vorhandenen hybriden Bedrohung erfordert Sicherheitsvorsorge insbesondere Prävention, Reaktion, Repression und Resilienz. Neben eigenen Fähigkeiten zur passiven Cyber-Verteidigung, setzt das nordatlantische Bündnis hinsichtlich offensiver Cyber-Verteidigungsfähigkeiten auf dazu vorhandene Fähigkeiten in einzelnen Mitgliedsstaaten. Ähnlich wie die NATO, betrachtet auch die Bundeswehr Cyber-Verteidigung als integralen Bestandteil der Gesamtverteidigung. Breite Übereinstimmung bestand in der Auffassung, dass zuverlässige „Attribution“ von Angreifern, ein jeweils umfassendes Lagebild und hinreichende Kooperation im nationalen sowie auch im Bündnis- oder Koalitionsrahmen unverzichtbare Voraussetzungen für wirksame Cyber-Verteidigung sind. Einvernehmen bestand ebenfalls zwischen den Panellisten und auch bei einem Großteil des Auditoriums, das Cyber-Verteidigung eine gesamtstaatliche Aufgabe darstellt und angestrebte Cyber-Abschreckungsfähigkeiten glaubwürdig sein müssen.
Das dritte Panel griff teilweise die Punkte aus dem vorangegangenen Panel auf und fokussierte seine Betrachtungen auf die Frage „Wie sollten künftige Militärstrategien den sich dynamisch ändernden Herausforderungen im Cyber- und Informationsraum im Rahmen hybrider Kriegsführung begegnen?“ Unter der sachkundigen Leitung von Dr. Martin C. Wolff diskutierten Dr. Florian Schaurer, Referent für Strategieentwicklung in der Abteilung Politik des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg), Fregattenkapitän Dr. Patrick Jungkunz, Referent für Cyber-Politik in der Abteilung Cyber/Informationstechnik des BMVg, und Major i.G. Christian Arendt, Militärischer Assistent des Kommandeurs der NATO Communication and Information Systems Group/Deputy Chief of Staff Cyberspace SHAPE.
Das Panel stützte sich auf eine Definition der hybriden Kriegsführung ab, der eine flexible Mischform von offen und verdeckt zur Anwendung gebrachten regulären und irrregulären, symmetrischen und asymmetrischen, militärischen und nicht-militärischen Konfliktmitteln zugrunde liegt. Diese werden mit dem Zweck zum Einsatz gebracht, die Schwelle zwischen den insbesondere völkerrechtlich so angelegten binären Zuständen Krieg und Frieden zu verwischen.
Im Verlauf der Paneldiskussion sowie auch bei der erweiterten Diskussion mit dem Auditorium wurde insbesondere die Notwendigkeit einer Strategie für gesamtstaatliche Verteidigung hervorgehoben und dabei eine künftig noch stärkere Ausrichtung auf intensive zivil-militärische Verteidigung gefordert.
Da im Rahmen hybrider Kriegsführung und im Zeitalter der vernetzten Operationsführung jedes Individuum und sämtliche Lebensbereiche sowie Politikfelder potenzielle Ziele von Angriffen sein können, darf künftig im Cyber- und Informationsraum nicht auf eine permanente Abwehrbereitschaft und Verteidigungsfähigkeit verzichtet werden. Die Selbstbehauptung von Staat und Gesellschaft im hybriden Umfeld unterliegt dabei nicht nur politisch-strategischen sowie technologisch-strategischen Faktoren, sondern in zunehmendem Maß auch psychologischen Faktoren. Letztere erhalten angesichts der Allgegenwart und den dynamisch wachsenden Fähigkeiten moderner Medien, insbesondere auch der „Sozialen Netzwerke“, einen unvergleichlich hohen Stellenwert. Die erfolgreiche Abwehr von und der Umgang mit den heutigen und künftigen vermutlich noch zunehmenden Hybriden Bedrohungen setzen ressortgemeinsames und gesamtstaatliches, zivil-militärisches Vorgehen voraus.
Das nachfolgende Panel 4 beleuchtete dann „Chancen und Möglichkeiten von Maßnahmen zur Vertrauensbildung, Rüstungskontrolle und Abrüstung hinsichtlich militärischer Fähigkeiten in Verbindung mit künstlicher Intelligenz und Autonomen Waffensystemen“. Der Moderator, Brigadegeneral a.D. Helmut Ganser, wies einleitend auf die derzeit krisenhafte Lage von Rüstungskontrolle hin und fokussierte das Gespräch auf zwei Schwerpunkt: Waffensysteme mit autonomen Fähigkeiten und Anwendung Künstlicher Intelligenz in Planungs- und Führungsprozessen. Botschafter a.D. Michael Biontino, der ehemalige Ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der Abrüstungskonferenz in Genf, gab einen umfassenden Überblick insbesondere zum aktuellen Stand der Gespräche der „Group of Governmental Experts (GGE) on Lethal Autonomous Weapons (LAWS)“. Dabei wurden sowohl die definitorischen Probleme als auch die sehr unterschiedliche und teilweise nur geringe Bereitschaft von Staaten zu verbindlichen Rüstungskontroll-Regelungen deutlich. Auch die Äußerungen des Referatsleiters für Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in der Abteilung Politik des BMVg, Ministerialrat Dr. Ernst-Christoph Meier, unterstrichen die eher skeptische Einschätzung der Erfolgsaussichten bei den Genfer Gesprächen.
Professor Dr. Neuneck, der Stellvertretende Wissenschaftliche Direktor am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg, ging näher auf die dual-use Technologie „Künstliche Intelligenz (KI)“ sowie auf die Komplexität „Autonomer Fähigkeiten“ ein. Dabei zeigte er u.a. auf, dass autonome Fähigkeiten bereits militärisch genutzt werden. Außerdem ging er auf sechs Felder sicherheitspolitischer Implikationen von KI und Systemen mit autonomen Fähigkeiten ein. Zugleich unterstrich er, dass Rüstungskontrolle als wesentliches Ziel haben müsse, (politisches) Vertrauen zwischen Vertragspartnern herzustellen. Breiten Raum nahmen dann in der Diskussion die Chancen und Möglichkeiten zur Definition, Implementierung und Verifikation von Verhaltensregeln für Rüstungskontrolle bezüglich KI und Waffensystemen mit autonomen Fähigkeiten ein.
Das fünfte, vom Geschäftsführer unserer Clausewitz-Gesellschaft, Brigadegeneral a.D. Hans-Herbert Schulz, geleitete Panel stand unter dem Thema „Ist ein sicherheitspolitischer Paradigmenwechsel angesichts der zu erwartenden neuen militärischen Fähigkeiten und Strategien erforderlich?“. Die Politikberaterin, Frau Sabine Gilleßen, beleuchtete zunächst wesentliche relevante Aspekte der Digitalisierung und forderte eine verstärkte Ausrichtung aller Bereiche auf prozessorientierte Strukturen sowie signifikant verbesserte Sicherheit und Benutzerfreundlichkeit.
MdB Alexander Müller, FDP, Mitglied im Verteidigungsausschuss des deutschen Bundestages, verdeutlichte die Notwendigkeit zu rascher und nachhaltiger Stärkung der Sicherheit und nationalen Verteidigungsfähigkeiten im Cyber- und Informationsraum. Dabei unterstrich er auch die dazu erforderlichen Investitionen.
Dr. Olaf Theiler, Referatsleiter „Zukunftsanalyse“ im Planungsamt der Bundeswehr, präsentierte zunächst seine Sicht zu einem dreifachen Paradigmenwechsel mit Thesen zum Ende des „langen Friedens“, der „linearen Planung“ und der „zentralisierten Führung“.
Generalleutnant a.D. Friedrich-Wilhelm Ploeger, ehemaliger Stellvertretender Befehlshaber Allied Air Command Ramstein, plädierte hinsichtlich der künftigen militärischen Fähigkeiten und Strategien für eine weiterhin konsequente Beachtung und Umsetzung der sicherheitspolitischen Vorgaben. Dazu erwähnte er u.a. die Einbindung deutscher Sicherheit und Verteidigung in den multilateralen Rahmen, die Nutzung der Vernetzung sowie der Anlehnung an eine Führungsnation zur Entfaltung von Synergien, die Beachtung und erwünschte Wiederbelebung/Stärkung von Rüstungskontrolle, eine angemessene Gewichtung der Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche der Bundeswehr im Verbund der Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeiten und die Wahrung des komplementären Doppelansatzes von Abschreckung bzw. Verteidigungsfähigkeit einerseits sowie Dialogbereitschaft mit Opponenten andererseits.
In der Diskussion standen dann Aspekte von Prävention und Resilienz, Führungsfähigkeit zur nationalen Verteidigung, Einheitlichkeit der Führung und Verantwortung (von Menschen) – auch beim Einsatz von Waffensystemen mit autonomen Fähigkeiten -, und realistische sowie völkerrechtskonforme Verhaltens- und Einsatzregeln für künftige Waffensysteme im Mittelpunkt. Das Panel schloss mit dem Resümee, dass alles darangesetzt werden müsste, zu der Sicherheitsarchitektur zurückzukehren, die bis vor einigen Jahren galt, wozu gesicherte Verteidigungsfähigkeit und Dialog und vertrauensbildende Maßnahmen gehören. Angesichts der neuen Herausforderungen, die sich in ihrer Dimension und zukünftigen Wirkung erst abzeichnen, sollte alles darangesetzt werden, sie vergleichbar den Nuklearwaffen, in ein internationales Rechtssystem einzubinden, für das es idealerweise auch ein Kontroll- bzw. Verifikationsregime geben müsste.
Der Kommandeur der Führungsakademie der Bundeswehr (FüAkBw), Brigadegeneral Oliver Kohl, der die Tagung bereits mit einer viel beachteten Präsentation zum aktuellen Stand sowie zur künftigen Ausrichtung der FüAkBw eröffnet hatte, zog in seinen abschließenden Bemerkungen ein durchweg positives Resümee.
Der Präsident der Clausewitz-Gesellschaft, Generalleutnant a.D. Kurt Herrmann, bewertete die Tagung ebenfalls als erfolgreich. Er äußerte sich abschließend u.a. dankbar, dass man das Gesamtspektrum der künftig erwartbaren Sicherheits- und Verteidigungsaspekte – vor allem auch im hybriden Umfeld – habe vermitteln können. Dabei sei es u.a. gelungen, den im „Clausewitz‘schen Sinne“ „Chamäleon-artigen Charakter“ von potentiellen künftigen Konflikten deutlich zu machen und dementsprechende Forderung nach erforderlicher Flexibilität, Agilität und Resilienz zu unterstreichen. Er verwies darauf, dass etliche Themen nur skizzenhaft aufgezeigt, nicht jedoch umfassend behandelt werden konnten. Deshalb bleibe die Hoffnung, dass zumindest notwendige weiterführende Diskussionen angeregt wurden und auch tatsächlich stattfinden werden. Seitens der Clausewitz-Gesellschaft wolle man diesen Diskurs nach besten Kräften fördern und begleiten.
Abschließend dankte Herrmann dem Kooperationspartner, FüAkBw, sowie allen Moderatoren, Referenten und darüber hinaus allen aktiv Beteiligten.
KH