Von der nuklearen Bedrohung zum Cyber-Krieg: Strategische Risiken und Bedrohungen im Wandel – 8. Clausewitz-Strategiegespräch in Berlin
Vor einem gut gefüllten Saal würdigte der Leiter der Vertretung des Landes Sachsen-Anhalt beim Bund in Berlin, Staatssekretär Dr. Michael Schneider, am Abend des 17. Februar 2016 in seinem Grußwort die erfolgreiche Serie der Clausewitz-Strategiegespräche, die in Kooperation zwischen der Clausewitz-Gesellschaft e.V., der Deutschen Atlantischen Gesellschaft e.V. und der Landesvertretung durchgeführt werden. Die achte Veranstaltung dieser Art wurde erneut vom Präsidenten der Clausewitz-Gesellschaft e.V. moderiert. Generalleutnant a.D. Kurt Herrmann rief eingangs die wesentlichen Daten und Fakten der Entwicklung im nuklear-strategischen Bereich seit 1945 in Erinnerung, skizzierte charakteristische Aspekte sicherheitspolitisch relevanter Aspekte des Cyber-Raums und erläuterte schließlich die Zielsetzung des Strategiegesprächs anhand einiger Fragen: Ist ein sicherheitspolitischer Paradigmenwechsel erforderlich? Existieren sicherheitspolitische Analogien zwischen dem nuklearen Bereich und dem Cyber-Raum, die ggf. für Lösungsansätze zur glaubwürdigen und nachhaltigen Sicherheitsvorsorge wechselseitig genutzt oder übertragen werden können? Welche sicherheitspolitischen, konzeptionellen und strukturellen Umstellungen oder Anpassungen sind für die Streitkräfte im Allgemeinen und für die Bundeswehr im Besonderen erforderlich?
Michael Rühle, ein durch regelmäßig publizierte sicherheitspolitische Artikel bekanntes Mitglied des Internationalen Stabes der NATO in Brüssel, setzte sich in seinem Vortrag zum Thema „Neue Dimensionen der nuklearen Bedrohung?“ mit Aspekten der sogenannten „nuklearen Renaissance“ auseinander und ging dabei vor allem auch auf Gründe für die Rückkehr der nuklearen Abschreckung in das strategische Denken ein. Dabei wies er u.a. auf die jüngste russische Rhetorik zum Einsatz nuklearer Waffen hin, erwähnte die umfängliche Modernisierung von Nuklearwaffen und nannte ebenfalls die „Rückbesinnung“ der NATO auf die Bündnisverteidigung, wobei er insbesondere die aktuellen Herausforderungen der NATO bei der Einbettung nuklearer Abschreckung in ein schlüssiges Verteidigungskonzept ansprach. Seine Hinweise auf die, trotz erforderlicher Geheimhaltung, notwendige Transparenz, mit dem Ziel der Berechenbarkeit, seine Forderung nach qualitativ hochwertiger Ausbildung sowie angemessener Risiko- bzw. Lastenteilung, aber auch sein Plädoyer für einen jeweils notwendigen Dialog mit dem „Abzuschreckenden“ fanden hohe Aufmerksamkeit. Dabei postulierte er u.a. die Forderung, dass die Interessen aller Beteiligten – auch die der eigenen Gesellschaft – insgesamt „durchdekliniert“ werden müssten, um die Glaubwürdigkeit und Nachhaltigkeit von Abschreckung wirksam zu gewährleisten.
Dr. Gundbert Scherf, der „Beauftragte für die strategische Steuerung nationaler und internationaler Rüstungsaktivitäten der Bundeswehr“ und Co-Leiter des Aufbaustabes für die Neuordnung des Cyber/IT-Bereichs im Bundesministerium der Verteidigung, trug anschließend vor zum Thema „Wie stellen sich die Streitkräfte auf die künftigen strategischen Herausforderungen im Cyber-Raum ein?“. Einleitend erwähnte er einige markante Strategiebrüche, die durch neue Technologien in der Vergangenheit bewirkt wurden. Mit Hinweis auf die sich im Cyber-Raum dynamisch entwickelnden neuen Risiken und potentiellen Bedrohungen unterstrich er die Forderung nach schneller Anpassung und hoher Reaktionsfähigkeit und nannte die Cyber-Verteidigung eine gesamtstaatliche Aufgabe mit klarem Mandat für die Bundeswehr, als die für die äußere Sicherheit zuständige Organisation. Der Cyber-Raum, als neue, fünfte sicherheitspolitische Domäne, erfordere ein wirksames Spektrum an Verteidigungsfähigkeiten; das müsse auch offensive Fähigkeiten einschließen. Bei den relevanten Kernaufgaben für die Cyber-Verteidigung nannte er insbesondere
- die Herstellung von Erkenntnisfähigkeit und Sicherheitsbewusstsein, vor allem durch engeres Zusammenwirken mit Nachrichtengewinnung und Aufklärung,
- die Anpassung der grundlegenden Prozesse im Cyber/IT-Bereich, z.B. durch Konsolidierung der Kommunikationsnetze,
- das Zusammenführen oder die „Verzahnung“ der Kompetenzbereiche, zur Nutzbarmachung von Synergien,
- die Gewinnung bzw. auch Aus- und Weiterbildung qualifizierten Fachpersonals und
- die Beschleunigung bzw. Leistungssteigerung der Beschaffungsprozesse.
In diesem Zusammenhang erwähnte er auch die anstehende Neuordnung des Cyber/IT-Bereichs mit einem speziellen Organisationselement Cyber/IT im Ministerium und einem Cyber- und Informationsraum-Kommando (CIRK) in der Bundeswehr.
Die anschließende Diskussion deckte ein breites Themenspektrum ab. Im Fokus standen dabei u.a. die strategischen Konsequenzen für Abschreckung aus dem Übergang von der bipolaren zur multipolaren Welt, die nach wie vor virulente Proliferation von Nuklearwaffen und der zu ihrer Verbringung erforderlichen weitreichenden Trägermitteln, die Aufnahme von Cyber-Bedrohung als strategische Bedrohung sowie die Zuordnung von Cyber-Verteidigung als integralem Anteil kollektiver Verteidigung in das aktuelle strategische Konzept der NATO, das Problem der nach wie vor unzureichenden Fähigkeit zur raschen Erkennung bzw. Zuordnung von Angreifern im Cyber-Raum (Attribution) sowie die daraus erwachsenden Schwierigkeiten für die Planung offensiver Cyber-Fähigkeiten, der notwendige Investitionsaufwand für den Aufbau und die Bereitstellung hinreichender Cyber-Verteidigungsfähigkeiten und Überlegungen zur operationellen Planung von Verteidigungsmaßnahmen mit vollständiger Integration von Cyber-Verteidigung. Beim Vergleich strategischer Aspekte des nuklearen und des Cyber-Bereichs wurden vor allem die äußerst beschränkte Frühwarnfähigkeit, Transparenz und Berechenbarkeit, aber auch die sehr unwahrscheinliche Wirksamkeit von Rüstungskontroll- oder Abrüstungsmaßnahmen im Cyber-Raum herausgestellt. Weitgehende Übereinstimmung konnte festgestellt werden, dass künftig beide Bereiche, der nukleare Bereich und der Cyber-Raum, unvermindert hohe Aufmerksamkeit und entsprechende Berücksichtigung in der gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge sowie in der Verteidigungsstrategie des Bündnisses verdienen.
Der Moderator wies in seinem Schlusswort nochmals auf die künftigen geopolitischen und technologischen Herausforderungen hin und unterstrich die Notwendigkeit, dass sowohl der Nuklearbereich als auch der Cyber-Raum integrale Bestandteile einer sicherheitspolitischen Gesamtstrategie sein bzw. bleiben müssen. Die seit Jahren festzustellende Auflösung der Grenzen zwischen Frieden und Krieg durch eine permanente, latente Cyber-Bedrohung, aber auch der anhaltende Trend zur asymmetrischen Kriegsführung bzw. „Hybridisierung von Konflikten“ ließen eine weiter zunehmende Komplexität der Sicherheitslage erwarten. Herrmann gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Veranstaltung Denkanstöße für zweifelsohne erforderliche weiterführende Diskussionen liefern konnte. Er dankte abschließend dem Auditorium für die zahlreichen engagierten Fragen und Kommentare und den beiden Referenten für ihre sehr gelungenen Vorträge und ihre geschätzten Diskussionsbeiträge.
Auf http://www.bundeswehr.de ist ein Bericht unter “Journal – Aus dem Ministerium – Clausewitz-Strategiegespräch: Cyberbedrohung ist wie die Pest” zu finden.
Quelle der nachfolgenden Abbildungen: Landesvertretung Sachsen-Anhalt: