“Zeitenwende” – Neuer Schwerpunkt: Landes- und Bündnisverteidigung – aus der Perspektive des Allied Joint Force Command Brunssum (JFCBS)”– RK West am 29. 08. 2022
Mit dem Angriff auf die Ukraine hat Russland die bisherige europäische Sicherheitsarchitektur nachhaltig zerschlagen. Alle Hoffnungen, das Land unter Putin durch wirtschaftliche Verflechtungen und diplomatische Bemühungen einzuhegen, sind verflogen. Russland stellt nicht mehr eine potenzielle, sondern eine reale und akute Bedrohung für Europa dar. Die Reaktion des Westens darauf, der NATO wie der EU, war durchaus beeindruckend. Denn beide Institutionen agierten in seltener Einmütigkeit – politisch, militärisch und wirtschaftlich. Der NATO-Gipfel von Madrid im Juni dieses Jahres markierte eine Neuausrichtung – mit dem Anspruch, der so apostrophierten Zeitenwende gerecht zu werden.
Zu den Auswirkungen dieser „Zeitenwende“ auf seinen ehemaligen Kommandobereich trug General a.D. Dipl.-Kfm. Jörg Vollmer, der erst vor wenigen Wochen in den Ruhestand getretene ehemalige Commander-in-Chief des Allied Joint Force Command Brunssum, in einer gemeinsamen Veranstaltung des RK WEST mit der Köln-Bonner-Sektion der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik unter Beteiligung des Bonner Forums der Deutschen Atlantischen Gesellschaft und der Bonner Sektion der Gesellschaft für Sicherheitspolitik im voll besetzten Moltkesaal auf der Hardthöhe vor.
Einführend ließ General Vollmer die entscheidenden sicherheitspolitischen Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte noch einmal Revue passieren. Seit der ersten Zeitenwende 1989, die das Ende des Kalten Krieges markierte, und verstärkt seit der zweiten Zeitenwende durch die Terrorangriffe auf die USA 2001 habe sich der militärische Fokus der NATO und deren Mitgliedsstaaten zunehmend auf die Auslandseinsätze gerichtet. Diese Einsätze, zunächst auf dem Balkan später in Afghanistan, dem Irak und seit einigen Jahren auch in Afrika, hätten das militärische Denken und Handeln fast ausschließlich bestimmt. Die Streitkräfte, insbesondere in Europa, seien schrittweise verkleinert worden, die Landes- und Bündnisverteidigung zunehmend aus dem Blick geraten.
Im Zuge dieses Wandels sei 2004 unter dem Dogma „360°-Verteidigung“ eine regionale Zuständigkeit der Hauptquartiere der NATO aufgegeben worden. Dementsprechend habe auch das NATO-Hauptquartier in Brunssum, das zunächst 2002 von AFCENT zu AFNORTH umbenannt worden war, zwei Jahre später seine feste regionale Zuständigkeit für die Nordostflanke der NATO in Europa verloren – unter erneuter Umbenennung in Allied Force Command Brunssum (JFCBS). Das Kommando wurde u.a. zuständig für den Einsatz der NATO in Afghanistan. Non-Article-5-Operations und Peace-Support-Operations bestimmten das Denken und Handeln, Landes- und Bündnisverteidigung traten in den Hintergrund. In Deutschland wurde der Afghanistaneinsatz der entscheidende Faktor auch für die Struktur der Streitkräfte. Der Kulminationspunkt dieser Entwicklung war die Neuausrichtung der Bundeswehr von 2010, mit der die Streitkräfte die Fähigkeit zum Gefecht der verbundenen Waffen oberhalb der Bataillonsebene weitgehend verloren.
Nach der russischen Annexion der Krim 2014 habe dann die NATO mit den Beschlüssen der Gipfeltreffen in Wales und Warschau 2014 bzw. 2015 die Wende dieser Entwicklung eingeleitet. Die schnellere Einsatzbereitschaft der NATO-Response-Force mit dem Kernelement der Very High Readiness Joint TaskForce (VJTF), die ständige Stationierung von NATO-Kräften im Baltikum, verstärktes Air Policing sowie die Umwandlung des Multinationalen Korps Nordost in Stettin in ein High Readiness Headquarter seien ohne Zweifel notwendig und richtig gewesen. Diese Maßnahmen seien auch erstaunlich schnell umgesetzt worden. Der Hauptfokus aber habe nach wie vor auf out-of area gelegen. Eine regionale Zuordnung für die Hauptquartiere sei nicht wieder eingeführt worden. 2019/20 setzte sichaufgrund vielfältiger russischer Aktivitäten, die insbesondere die baltischen Staaten beunruhigt hatten, die Erkenntnis durch, dass sich die NATO in ihrer Kommandostruktur der neuen Bedrohung anpassen müsse. Aber selbst dann war nicht vorgesehen, Truppenteile den jeweiligen Kommandobehörden oder Korps-Hauptquartieren fest zuzuordnen.
Der russische Angriff auf die Ukraine habe jedoch zu einem Paradigmenwechsel geführt, der sich in den Beschlüssen des NATO-Gipfels von Madrid im Juni dieses Jahres niedergeschlagen hat. Künftig wird es wieder eine geographische Zuordnung von Räumen zu den drei Hauptquartieren Norfolk, Brunssum und Neapel geben, deren Grenzen aber noch nicht abschließend entschieden sind. Die drei operativen Hauptquartiere sind beauftragt worden, bis zum Jahresende Regionalpläne zu erarbeiten, auf deren Grundlage dann die neue Kommandostruktur mit den jeweiligen Verantwortungsbereichen festgelegt wird. Dabei müssen natürlich auch die künftigen neuen Mitglieder Schweden und Finnland berücksichtig werden, die beide sehr kampfkräftige und moderne Streitkräfte in die NATO einbringen. Aufgrund der geostrategischen Gegebenheiten sollte die Verantwortung für die Verteidigung der Ostsee mit ihren Anrainerstaaten zweckmäßigerweise in einer Hand liegen.
Unter der Bezeichnung „New Force Model“ sollen auch wieder feste Zuordnungen von Truppenteilen in drei Verfügbarkeitskategorien erfolgen. Dies sei ein Paradigmenwechsel gegenüber den maßgeschneiderten Kontingenten im Rahmen der Force Generation für Auslandseinsätze. Ebenso werde man wieder Alarmsysteme, Mobilmachungs- und Operationsplanungen wie früher üblich einführen. Darüber hinaus seien weitere Anpassungen der Kommandostruktur erforderlich. So werde u.a. für die Führung der Korps im Verantwortungsbereich Brunssum ein Land Component Command, für die Führung der Seestreitkräfte ein Maritime Component Command benötigt. In all diesen Fragen müsse sich Deutschland über seine Interessen und über die Beiträge klar werden, die es in die NATO einbringen könne und wolle.
Die von den baltischen Staaten vehement geforderte Vorne-Stationierung von Truppen über das bestehende Maß hinaus hielt General Vollmer angesichts der Größe des gesamten Operationsgebietes und der insgesamt verfügbaren Kräfte nicht für möglich. Sie sei aber auch nicht erforderlich, weil es immer eine Vorwarnzeit gebe, die dann zum Aufmarsch der jeweils angemessenen Kräfte genutzt werden könne. Die Litauen von der Bundesregierung zugesagte Verstärkung der bisherigen deutsch-geführten Battle Group auf Brigadestärke durch ein Forward Command Element sicherzustellen, sei richtig und zweckmäßig.
Zur militärischen Lastenteilung zwischen den USA und Europa merkte General Vollmer an, dass die zunehmende Fokussierung der USA auf den indo-pazifischen Raum eine Kompensation durch die europäischen Mächte erfordere. Die Europäer müssten daher ein höheres Maß an Verantwortung für die Verteidigung ihres Kontinents übernehmen– aber tunlichst als Beitrag zur NATO. Der Schwerpunkt müsse dabei eindeutig bei der Landes- und Bündnisverteidigung liegen. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine habe in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, dass eine solche Auseinandersetzung letztlich immer am Boden entschieden werde. In der aktuellen Bedrohungslage werde Deutschland nicht mehr am Hindukusch, sondern an der Nordostflanke der NATO verteidigt. Für die Vorbereitung dieser Verteidigung habe man durch die Bindung der russischen Kräfte in der Ukraine einige Jahre an Zeit gewonnen. Diese Zeit gelte es aber auch zu nutzen.
In der anschließenden ausführlichen Aussprache, die Oberst a.D. Richard Rohde, Leiter der Sektion Bonn der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, moderierte, wurde ein breites Spektrum an Themen angeschnitten. Dazu gehörten u.a. die Frage der Mobilmachung ausreichender Kräfte, ihrer Ausstattung und Professionalisierung, Fragen der Luftverteidigung und Flugabwehr, die Rolle des Weltraums und von Cyberoperationen in der Bündnisverteidigung, die Auswirkungen einer Krise in Taiwan auf die europäische Verteidigung, die Notwendigkeit, die Ukraine zu befähigen, den Krieg erfolgreich zu beenden, Fragen zur Umsetzung des 100 Mrd-Programms der Bundeswehr und zur Fähigkeit die eigene kritische Infrastruktur zu schützen. Nicht zuletzt wurde die Bedeutung einer intensiven sicherheitspolitischen Debatte für die Entwicklung einer angemessenen „Verteidigungsmentalität“ in der Bevölkerung unseres Landes betont.
Der Leiter des RK WEST der Clausewitz-Gesellschaft dankte im Namen aller beteiligten Organisationen General a.D. Jörg Vollmer sehr herzlich für Vortrag und Aussprache. Er bezeichnete es als besonderes Privileg, die aktuellen Entwicklungen in der NATO von einem Referenten erläutert zu bekommen, der aufgrund seiner letzten Verwendung diese Entwicklungen hautnah miterlebt und mitgestaltet hat. Die Ausführungen General Vollmers waren prägnant, verständlich und überzeugend. Sie sind ohne Zweifel bei dem Auditorium auf fruchtbaren Boden gefallen. Seine Aussage, die Entscheidungen zu Struktur und Ausstattung der Bundeswehr, die zu dem heutigen unbefriedigenden Zustand geführt hätten, seien aus heutiger Sicht zwar falsch, aber zu der jeweiligen Zeit nachvollziehbar gewesen, wurde allerdings nicht uneingeschränkt geteilt. Diese hochinteressante Vortragsveranstaltung war ein Highlight im Veranstaltungskalender des RK WEST.
Der RK WEST dankt Oberst a.D. Josef Schuler und Stabshauptmann a.D. Volker Thielert für die reibungslose Organisation der Veranstaltung sowie Oberst a.D. Richard Rohde für die Moderation der Aussprache.
Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.