Zwischen Kulturen und Krisen – meine Erfahrungen als Interkultureller Einsatzberater in Afghanistan und in der Nationalen Krisenvorsorge (DiploEvac) – RK Nord am 18.06.2024
Am 18.06.2024 konnte sich der Regionalkreis Nord über die Aufgaben eines Interkulturellen Einsatzberaters informieren. Korvettenkapitän Marko Hellgrewe trug vor über seine persönlichen mehrjährigen Erfahrungen als Interkultureller Einsatzberater der deutschen Kontingentführung (COM RC North) in Afghanistan; insgesamt war er mehr als 1.300 Tage dort tätig und hat dabei das Land wie kaum ein zweiter deutscher Soldat kennengelernt.
Seit der Zeitenwende hat die Wieder-Ausrichtung der Bundeswehr auf Landes- und Bündnisverteidigung höchste Priorität. Aber auch für Bündnisverteidigung braucht es interkulturelle Kompetenz, denken wir nur an das Zusammenwirken der Streitkräfte verschiedener NATO-Partner mit all ihren unterschiedliche Führungskulturen, oder an die Stationierung einer ganzen Brigade in Litauen.
Im Afghanistan-Einsatz war interkulturelle Kompetenz eine Schlüssel-Fähigkeit. Der Einsatz ist abgeschlossen, aber aus ihm lassen sich viele Lehren für die Zukunft gewinnen, auch und gerade für die Herausforderungen der Bündnisverteidigung in Europa.
Hellgrewe begann seinen Dienst in der Bundeswehr als Matrose UA. Sein Weg führte ihn vom Militärischen Kraftfahrwesen über Operative Information ins Militärische Nachrichtenwesen. Dabei wechselte er mehrfach die Laufbahn und war u.a. in der Division Spezielle Operationen, dem Einsatzführungskommando der Bundeswehr und zuletzt im BMVg im Leitungsbüro des neuaufgestellten Planungs- und Führungsstabes tätig. Seit April 2024 ist er bei SHAPE eingesetzt.
Für 3 deutsche Kontingentführer (COM RC North) war Hellgrewe als Interkultureller Einsatzberater insgesamt mehr als 1.300 Tage in Afghanistan eingesetzt. Im Auftrag des COM RC North entwickelte er Kontakte zu allen Schichten der afghanischen Gesellschaft und baute ein Netzwerk zu Persönlichkeiten – bis hin zu den jeweiligen Spitzen – aus Politik, Wirtschaft und Religion auf. Mehr als 40.000 km war er dabei zumeist alleine im gesamten Land unterwegs.
Sein eindrucksvoller und farbiger Vortrag über diese Tätigkeit löste eine so lange und lebhafte Diskussion aus, daß der vorgesehene zweite Teil seines Vortrags über “Nationale Krisenvorsorge (DiploEvac)” aus Zeitgründen entfallen musste. Sowohl bei seinem Vortrag als auch in der Diskussion spürten die Teilnehmer, wie sehr Hellgrewe sich immer noch mit diesem geschundenen Land und seiner Bevölkerung verbunden fühlt.
Wesentlich für eine erfolgreiche Tätigkeit als Interkultureller Einsatzberater ist das Verständnis für Geschichte, Religion sowie für die Sitten und Gebräuche des jeweiligen Einsatzgebietes. Afghanistan ist geprägt von sehr unterschiedlichen Regionen mit ihren jeweils dominierenden Volksgruppen. In seiner langen Geschichte war es kein straffer Zentralstaat, sondern ein zwar formal geeintes Land, aber mit faktisch nahezu selbstständigen Provinzen. Seit 1978 toben in Afghanistan Bürgerkrieg und Krieg. Unter den dortigen Sitten und Gebräuchen, z.B. dem Paschtunwali, kommt dem Begriff der Ehre besondere Bedeutung zu; dazu gehört, daß ein Gast im Haus eines Gastgebers immer sicher ist. Bestechlichkeit ist traditionell üblich, bedeutet aber keine dauerhafte “Käuflichkeit”. Massive Korruption wie auch die völlig ungezügelte Herrschaft von “War Lords” und der großflächige Drogenanbau verbreiteten sich erst während der Bürgerkriege seit 1989, in denen die letzten Reste funktionsfähiger staatlicher Strukturen vernichtet wurden.
Auf der Petersberger Konferenz Ende 2001 einigte sich die Weltgemeinschaft auf ein Programm zum umfassenden Wiederaufbau Afghanistans im Sinne des Comprehensive Approaches. Dabei entsprachen aber viele der beschlossenen Ziele keinesfalls der afghanischen Geschichte und Kultur, so z.B. die Idee von Demokratie, universellen Menschenrechten oder einer einheitlichen Zentralregierung. Auch wurden die geographischen und ethnischen Gegebenheiten, das völlig unzureichende Straßennetz und das wirtschaftliche Entwicklungspotential nicht ausreichend berücksichtigt. Zudem wurden die meisten der ehrgeizigen Ziele von den jeweils zuständigen Nationen – Deutschland übernahm die Verantwortung für den landesweiten Aufbau der Polizei – mangels bereitgestellter personeller Ressourcen nie auch nur ansatzweise umgesetzt. So war für die Polizeireform ein Bedarf von etwa 1.000 Beratern vorgesehen; aufgrund des deutschen Beamtenrechts war ein Einsatz von Polizisten aber nur freiwillig möglich, so daß de facto nur weit unter 100 Polizeibeamte als Berater im ganzen Land eingesetzt wurden. Parallel versickerten in den Folgejahren Hunderte von Milliarden US-$ an Entwicklungshilfe der Weltgemeinschaft in dem nicht ausreichend vorbereiteten Land.
Im Ergebnis – das wurde während der Diskussion deutlich – musste überall das Militär (erst als ISAF, dann RSM) zivile Aufgaben mit übernehmen, im deutschen Sektor anfänglich sogar das Gefängniswesen. Das führte zu einer massiven Aufgabenüberdehnung und Überforderung der eingesetzten ISAF-Truppen. Zudem erschwerten immer wieder nationale politische Vorgaben ein militärisches Vorgehen, oft genug sogar in der Selbstverteidigung, geschweige denn zur Durchsetzung des ursprünglichen Auftrages, der Gewährleistung von Sicherheit in ganz Afghanistan.
Nach der Diskussion klang die Veranstaltung wie üblich nach einem gemeinsamen Abendessen vom Büffet und Einzelgesprächen in lockerer Runde aus.
Dr. Hans-Peter Diller
Oberstarzt a.D. und Leiter Regionalkreis Nord
Bild: Quelle OSF a.D. Becker, Clausewitz-Gesellschaft e.V.